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Allein in der Freiheit

von der Gast-Autorin Christa Maier aus Hamburg

 

Nie hatte er sich so allein gefühlt. Er stand mit seiner Schulaktentasche in der Schlange vor der Anmeldebaracke. Wegen des Andrangs hatte man fünf Schalter eingerichtet.

Sehr deutsch aber irgendwie auch übersichtlich nach den Anfangsbuchstaben der Nachnamen. Die letzte Reihe war die Längste und ausgerechnet da hatte er sich anstellen müssen. S – Z mit einem dicken Stift handgemalt.

Er hieß Volker Weniger. Aber weniger ist manchmal mehr. Das war der Standardscherz seines Vaters. Komisch, was für Gedanken einem bei dieser Warterei kommen, dabei waren die letzen Stunden die aufregendsten seines knapp 19-jährigen Lebens gewesen.

Unvorstellbar wie viele Leute Schmidt und Schulz heißen, dachte er. Für die hätte man doch einen Extra-Schalter einrichten können und Müller und Meier dazu.

Seit drei Stunden wartete er. Ab und zu hatten die Helfer vom Roten Kreuz, die auch belegte Brote und Kaffee an die Wartenden verteilt hatten, Alte und Schwangere nach vorn geleitet. Das konnte er verstehen, auch wenn er innerlich murrte. Er war seit heute morgen um 4 unterwegs.

Fünf Personen standen noch vor ihm. Ein sehr junger Mann, vielleicht sechzehn und eine vierköpfige Familie. Die Kinder waren höchstens drei und fünf Jahre alt. Wie die das wohl geschafft hatten? Fragen wollte er nicht. Die Eindrücke waren so frisch und die Anspannung zu stark. Aber die waren auch aus Dresden. Das hörte er ganz deutlich an der Aussprache, wahrscheinlich kamen sie aus der Friedrichstadt. Jeder Stadtteil hatte seinen ganz eigenen Klang. Das konnten nur die ganz echten Dresdner raushören. Er schluckte kurz, musste an seine Mutter denken. Hatte sie inzwischen seinen Zettel gefunden?

Er war in der Südstadt geboren im Dezember 1942. Zwei Jahre später im Februar 1945 war die Stadt in einem letzen Kriegsinferno untergegangen. Bis dahin hatten alle geglaubt, ihnen könne nichts passieren, weil doch niemand so viel Schönheit zerstören wollen könne. Das war ein grausiger Irrtum. Die gesamte Altstadt lag in Trümmern und in der Neustadt war kaum ein Stein auf dem anderen geblieben. In der Südstadt hatten sie Glück gehabt. Das Haus stand noch, als er mit seiner Mutter aus dem Keller kam. Aber dann kamen die Bomber zurück am helllichten Tag, als sich die Menschen gerade berappelten und aufzuräumen versuchten oder nur die letzen Sachen packten, um zu fliehen. Das vergisst man nicht. Seine Mutter zitterte auch später immer bei Sirenenübungen.

Vier Jahre nach dem Krieg war sein Vater aus der Gefangenschaft heimgekehrt und hatte ihm die Bilder gezeigt, die er lange vor Volkers Geburt gemacht hatte. Vom Krieg hatte der Vater nie erzählt, aber die Bilder von der Stadt, wie sie einmal war, das war Thema zwischen den Beiden. Werkzeugmacher hatte der Vater gelernt und er fand auch bald wieder eine Arbeit. In die Wohnung mussten Flüchtlinge aus Schlesien mit aufgenommen werden und darum war auch kein Platz für ein Geschwisterkind. Volker war allein geblieben.

Als sogenanntes Arbeiterkind hatte er nach der 8-jährigen Volksschule die Oberschule besuchen dürfen und vor einem Jahr sein Abitur bestanden. Erstaunlicherweise war er in seiner Klasse das einzige Kind eines Handwerkers gewesen und er hatte es auch nicht leicht, weil ihm zu Hause keiner helfen konnte.

Aber nun wollte er studieren und Sportjournalist werden. Die Regeln sahen vor, dass sich ein junger Mensch erst einmal in der Produktion bewähren muss, ehe ihm ein Studienplatz zugewiesen würde. Das hatte er hinter sich gebracht. Er hatte das letzte Jahr in einer Druckerei gelernt, eine Setzmaschine zu bedienen. Dazu nahmen sie gern Abiturienten, denn bei denen stimmte meistens die Rechtschreibung.

Aber nun lag die Ablehnung auf den ersehnten Platz an der Uni auf dem Tisch. Er sollte vorher für zwei Jahre zur Nationalen Volksarmee. Das wollte er nicht. Er hatte Rousseau gelesen. Ein Satz war ihm im Gedächtnis geblieben:

Die Freiheit des Menschen liegt nicht darin, dass er tun kann, was er will, sondern dass er nicht tun muss, was er nicht will.

Und in dieser Armee dienen wollte er nicht.

In den letzten drei Monaten hatte er in Rundfunk und Zeitungen verfolgen können, wie sich die Lage des Landes verändert hatte. Fast täglich hatte einer seiner Kollegen ohne es anzukündigen das Land über das einzige Schlupfloch Berlin verlassen. In der Druckerei musste improvisiert werden, um die Arbeit dennoch zu schaffen. Manch einer, der heute noch öffentlich über die Verräter schimpfte, war schon am nächsten Tag verschwunden.

Mit Kollegen über private Angelegenheiten zu spechen, war gefährlich geworden. Wer zu viel redete, verschwand über Nacht nicht im Westen sondern in einem Gefängnis der Staatssicherheit. Aber auch darüber konnte nicht gesprochen werden.

Anfang August war es besonders schlimm geworden. Auch Nachbarn waren plötzlich weg. Das konnte so nicht mehr lange weiter gehen.
Ohne seine Eltern einzuweihen, entschloss er sich,auch zu gehen, so lange das noch möglich war. Ihm war klar, dass die Grenzen dichtgemacht werden würden, denn kein Staat der Welt konnte sich den Exodus seiner gut ausgebildeten jungen Leute erlauben.

Am Abend des 11. August kaufte er sich am Bahnhof eine Fahrkarte nach Rostock.

Um keinen Verdacht zu erregen, eine Rückfahrkarte. Dann packte er einen Koffer mit Urlaubssachen und in eine kleine Aktentasche steckte er einige persönliche Papiere.

Seinen Eltern hatte er einen Brief in den Küchenschrank gelegt, in dem er sie bat, erst am nächsten Morgen sein Verschwinden bei der Polizei zu melden. Er dankte ihnen für ihre Liebe und bat sie um Verzeihung. Dass er ihnen nichts von seinem Plan gesagt hatte, war kein mangelndes Vertrauen, sondern Schutz.

Zweimal wurde der Zug auf der Strecke nach Berlin von Volkspolizisten durchsucht und die Reisenden befragt. Als man seine Badehose und ein Handtuch im Koffer sah, glaubte man ihm auch als er sagte, er wolle für eine Woche an die Ostsee. Ein Freund wäre dort mit einem Zelt bereits vorausgefahren. Andere Reisende hatten nicht so viel Glück. Er sah die Polizisten mit einem jungen Ehepaar den Zug verlassen.

Seinen Koffer schloss er am Bahnhof Friedrichstraße in einem Schließfach ein. Er traute sich nicht, ihn einfach stehen zu lassen. Er kaufte einen Liebesroman und einen kleinen Blumenstrauß und setzte er sich in die S- Bahn Linie 1. Zwei Stationen dieser Linie lagen im französischen Sektor von Berlin und die letzten fünf ebenfalls. Darum musste der Zug dort auch anhalten.

Kurz vor dem Schließen der Türen waren Polizisten hineingesprungen. Der Zug hielt auf freier Strecke kurz vor dem Haltepunkt Nordbahnhof an. Alle Fahrgäste mussten sich ausweisen und ihr Reiseziel benennen.

Mit bis zum Hals pochendem Herzen zeigte Volker auf den Blumenstrauß und den Roman. Die Schwester seiner Großmutter sei sehr krank und er solle sie im Auftrag seiner Eltern in Pankow besuchen. Er sei noch nie dort gewesen und wäre dankbar, wenn ihm der Beamte sagen könne, wie er von der Station Bornholmer Straße in die Ibsenstraße käme.

Etwas unwirsch bekam er zu hören, dafür sei jetzt keine Zeit. Fragen Sie am Bahnhof.

Die Beamten stiegen dann am Nordbahnhof aus. Durch die beiden Weststationen durften sie nicht mitfahren.

Zitternd und den Tränen nahe verließ er den Zug am Bahnhof Gesundbrunnen. Vor der Sperre standen Helfer des Roten Kreuzes bereit, die sich dann um ihn kümmerten und ihm den Weg nach Marienfelde zum Auffanglager wiesen.

Menschen wuselten um ihn herum. Er war noch nie so allein.

In der Nacht begannen die Grenzsoldaten, eine Mauer zu errichten. Der S-Bahn-Verkehr wurde eingestellt.

 

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