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Auf eine Tasse Kaffee Lilli Windolf

Lilli Windolf, 93, wohnt seit einem Jahr im rheinland-pfälzischen AWO Seniorenzentrum Mayen.

AWO Journal: Frau Windolf, sicherlich war es nicht einfach, im Alter von über 90 Jahren das vertraute Zuhause zu verlassen und noch einmal umzuziehen. Haben Sie sich gut eingelebt?

Lilli Windolf: Meine Wohnung zu räumen fiel mir nicht leicht. Aber nach fünf Operationen sitze ich inzwischen im Rollstuhl, und damit bin ich im Seniorenheim viel besser aufgehoben. Hier werden so viele schöne Dinge angeboten, an denen ich noch teilnehmen kann, wie Sitzgymnastik oder Singkreis. Musik ist mein Ein und Alles. Sie gehört seit Kindesbeinen zu meinem Leben: Meine Mutter spielte Klavier und mein Vater, ein Baumeister, hat im Chor gesungen. Meine Stimme wurde entdeckt, als ich etwa 8 Jahre alt war. Ich sang in der Kirche, bei Hochzeiten und durfte mit 15 auf die Musikschule in Königsberg.

Das war 1936 in Königsberg an der Eger im Sudetenland.

Uns ging es damals gut. Wir waren vier Kinder und wuchsen behütet auf: Im Sommer schwammen wir im See, im Winter fuhren wir Ski und Schlittschuh. Mein Bruder studierte später in Prag Architektur und ich sollte dort aufs Konservatorium. Weil ich aber noch nicht volljährig war, wurde ich dann doch nicht aufgenommen. Dann kam der Krieg …

… und vorbei war es mit der Leichtigkeit.

Das kann man wohl sagen! Ich habe mich beim Roten Kreuz gemeldet und bin in Gießen auf die Heeresschule für Nachrichtenhelferinnen gekommen. Drei Jahre lang war ich in Paris im Einsatz. 1943 ging es ins dänische Kolding – kurz nachdem ich geheiratet hatte. Doch ich bekam keine Post von meinem Mann. Drei Monate nach der Hochzeit, im November 1943, hörte ich während meines Dienstes, wie jemand zu einem Soldaten sagte: »Weiß die eigentlich schon, dass ihr Mann gefallen ist?« Da brach ich zusammen. Das war zu viel für mich. Ich bat um Entlassung.

Wohin hat es Sie verschlagen?

Die Vertreibung aus Königsberg war sehr schmerzhaft. Wir fuhren mit einem Viehwaggon drei Tage und vier Nächte lang in den Westen und wurden bei Marburg ausgelagert. Ich kam schließlich bei Freunden in Wiesbaden unter. Dort konnte ich Gesangsunterricht nehmen, wurde Mitglied in einem Operettenensemble und außerdem noch in einer sudetendeutschen Gruppe – wir traten auf kleinen Bühnen auf.

Und die Liebe – sind Sie noch einmal einer begegnet?

Ja, im Chor. Mein späterer Mann wollte ursprünglich Konzertpianist werden, wurde aber Meteorologe und übte die Musik als Hobby aus. Diese Gemeinsamkeit hat uns immer sehr verbunden. Er begleitete mich auf dem Piano, wenn ich für unsere Auftritte im Kirchenchor probte. Wir bekamen einen Sohn, Hans-Ludwig, und führten über 50 Jahre eine gute Ehe – bis mein Mann einen Schlaganfall bekam und vor elf Jahren verstarb.

An welchen schönen Moment denken Sie gern zurück?

An mein erstes Weihnachten hier im AWO Haus. Ich wurde gefragt, ob ich bei der Feier etwas singen möchte. Das hatte ich jahrelang nicht mehr getan und fühlte mich etwas unsicher. Trotzdem überwand ich mich und sang, begleitet von einer Querflötistin, das Lied „Still, still, still, weil’s Kindlein schlafen will“. Danach gab es viel Applaus. Das hat mich sehr berührt: ein Solo mit 91, und den Leuten gefällt es! Da habe ich gedacht:
Wenn ich auch nicht mehr gehen kann, so hat der Herrgott mir doch meine Stimme gelassen – und dafür bin ich sehr dankbar

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Hinter den Kulissen eines Seniorenzentrums

Auf gute Nachbarschaft!