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DAHOAM is DAHOAM

Bergfräulein

»Glückselig der, dessen Welt innerhalb des Hauses ist!« Schon bei Johann Wolfgang von Goethe stand die Heimat hoch im Kurs. Und was empfinden die Frauen und Männer in den Seniorenzentren bei diesem Thema? Das AWO Journal ging auf Spurensuche nach Bayern, wo die Verbundenheit zur Region besonders groß ist.

Stadtbild

Geht es um Heimat, sind die Grenzen klar: Schon der nächste Straßenzug kann bereits Niemandsland sein. Beispiel Göggingen, eine Gemeinde im oberbayerischen Bezirk Schwaben, die lange eigenständig war. Trotz großem Widerstand ihrer Bürger wurde sie 1972 von Augsburg »geschluckt«. Doch an der lokalen Identifikation hat das nichts geändert, im Gegenteil: Kaum einer der rund 2.400 Einwohner würde sich heute als Augsburger bezeichnen. Nein, die Menschen im Arbeiterwohngebiet feiern in diesen Wochen »750 Jahre Göggingen«, ihr Göggingen. Und das mit voller Überzeugung. »Man ist hier tief verwurzelt und hat einen engen Bezug zum Viertel«, sagt Holger Repenning, Einrichtungsleiter des örtlichen AWO Seniorenheims. Weshalb die Gögginger auch gerne bei ihm eine Bleibe finden.

Anders als in anderen Häusern, in denen viele Zugezogene wohnen, kommen hier die meisten Bewohner aus der Gegend. Das spiegelt sich auch im Raumkonzept des gerade fertig gestellten Neubaus wider: Die lichtdurchfluteten Flure zieren großformatige Aufnahmen von Göggingen; sie zeigen die alte Ziegelei, Kiesbagger an der Wertach oder die Zwirnerei und Nähfadenfabrik. »Wir haben mit dem hiesigen Geschichtskreis zusammengearbeitet«, so Herr Repenning beim Rundgang durch das Haus. »Die Fotos sind eine Hommage an Göggingen, und sie regen außerdem zu Gesprächen an. Die Bewohner verweilen dort gerne und tauschen sich über die Motive aus.«

Albert Barthel | © Eric Langerbeins
Albert Barthel | © Eric Langerbeins

Albert Barthel könnte zu jedem Bild einen abendfüllenden Vortrag halten. Der 94-Jährige ist der Inbegriff eines Ur-Göggingers. Als Gründungsmitglied der Arge (Arbeitsgemeinschaft der Gögginger Vereine und Organisationen) hat er sich wie kein zweiter für seine Heimat starkgemacht. Ohne ihn gäbe es keinen Bürger- oder Rosenmontagsball im Stadtteil und wohl auch keinen Maibaum und kein neues Kurhaus. Seine Verdienste würdigte die Stadt mit einer Urkunde, die nun in seinem Bewohnerzimmer hängt.

»Als junger Bursche wollte ich in die Welt hinaus und meldete mich freiwillig zur Marine«, erzählt Herr Barthel. »Aber in französischer Gefangenschaft hörte ich nachts heimlich den Funk ab, es fielen die Namen der Kameraden von zu Haus – da bekam ich großes Heimweh.« Von da an blieb er Göggingen treu. Heute genießt er es, wenn sein Enkel Sascha vorbeikommt, mit dem er »älls« Augsburgerisch schwätzt.

Ein Münchner im Himmel - BildWie viele andere auch, verbindet die beiden der Dialekt. Der gibt der Heimat ihren Klang. Selbst wenn man vom Aussterben der regionalen Sprache liest – in den Seniorenheimen von Regensburg bis Rostock wird Mundart gesprochen, auch von vielen AWO Mitarbeitern. »Gerade wenn jemand neu eingezogen ist, hilft es, mit ihm auf diese Weise in Kontakt zu treten«, so Angelika Kribbel, Sozialarbeiterin beim rheinischen AWO Altenzentrum Weilerswist. »Der vertraute Zungenschlag vermittelt Nähe, die Bewohner können dann offener über ihre Situation sprechen.«

Heimat ist jedoch nicht nur ein klar umgrenzter Raum oder eine bestimmte Art zu reden. Sie ist vor allem ein Gefühl, das Geborgenheit vermittelt. Das kann auch ein bestimmter Geruch sein oder ein spezieller Geschmack. Besonders Gerichte aus der Kindheit wecken Erinnerungen an daheim. Weshalb im AWO Haus Königsbrunn auch ein Kochbuch mit den Lieblingsrezepten der Bewohner entstand, mit Gerichten wie Westfälische Erbsensuppe, Rheinischer Heringssalat oder Böhmische Serviettenknödel.

Über die Bedeutung von Heimat, das 2009 beim Wettbewerb um »Das schönste deutsche Wort« zu den Gewinnern zählte, haben sich schon viele den Kopf zerbrochen. Philosophen wie Cicero ebenso wie Fußballprofis, z. B. Bastian Schweinsteiger. Der sagte auf die Frage, warum er vom FC Bayern nicht zu einem der Star-Clubs ins Ausland wechsele: »Ich habe auf mein Herz gehört. Ich kenne die Angestellten und weiß, wo die Toiletten sind.« So einfach kann es sein.


Anneliese Betzler aus dem AWO seniorenheim Königsbrunn | © Eric Langerbeins
Anneliese Betzler aus dem AWO seniorenheim Königsbrunn | © Eric Langerbeins

Anneliese Betzler aus dem AWO Seniorenheim Königsbrunn:»Das Erzgebirge, wo ich aufgewachsen bin, ist mit seinen Wäldern und der gesunden Luft wunderschön. Ich liebe den sächsischen Kartoffelsalat mit Hering und den Stollen. Trotzdem würde ich mich heute dort fremd fühlen, denn seit meiner Hochzeit 1944 mit einem Augsburger lebe ich in Bayern. Hier ist längst mein Zuhause.«

 

Anna Schmid | © Eric Langerbeins
Anna Schmid | © Eric Langerbeins

Anna Schmid aus dem AWO Seniorenzentrum Miesbach:
»Ich habe erst 26 Jahre in einer Papierfabrik gearbeitet, dann neun Jahre in einer Bäckerei, und immer in Tegernsee gewohnt. Woanders wollte ich nie leben. Mein weitestes Ziel, an dem ich je gewesen bin, war Jesolo in Italien.«

 

Maria Büttner aus dem AWO Seniorenzentreum Miesbach | © Eric Langerbeins
Maria Büttner aus dem AWO Seniorenzentreum Miesbach | © Eric Langerbeins

Maria Büttner aus dem AWO Seniorenzentrum Miesbach:
»Heimat ist da, wo ich geboren und aufgewachsen bin – nämlich im niederbayerischen Waldkirchen, 30 Kilometer von der tschechischen Grenze entfernt. Und Heimat ist da, wo meine Tochter ist.«


Tatsache ist, dass in einer zunehmend komplizierten und unüberschaubaren Welt das Bedürfnis nach Orientierung wächst und auch junge Menschen wieder Wert auf ihre Wurzeln legen. Nur noch sieben Prozent der Deutschen verbinden damit Enge und Spießigkeit. Ob Tim Mälzers »Heimat«-Kochbuch, ob Edgar Reitz‘ »Heimat«-Filme, die wieder im Kino laufen, oder ob Museen für die Kulturschätze der Region, die derzeit überall aus dem Boden schießen: Das Regionale erlebt eine Renaissance. Oder anders gesagt – wie »Die Welt« neulich titelte: »Nie war die Heimat so wertvoll«.

Zwei, die eine gehörige Portion zur Pflege der bayerischen Kultur beigetragen haben, sind Traudl und Walter Reiner, die Zeichner des rotbackigen Aloisius, dem »Münchner im Himmel«. Der machte 1962 deutschlandweit Filmkarriere und schmückt heute als Kunststofffigur das Bewohnerzimmer. Im Hofbräuhaus hatten die beiden die Skizzen gefertigt. »Mia san oft gar nicht zum Zeichnen kemma, weil mia a so lacha musst’n«, erinnerte sich Traudl Reiner anlässlich des Jubiläums von Engel Aloisius.

Herta Schute und Günther Holzkamm | © Eric Langerbeins
Herta Schute und Günther Holzkamm | © Eric Langerbeins

Für ihre Mitbewohnerin Herta Schute gehört der »Dienstmann Nr. 132« zu München wie die Maß Bier zum Wirtshaus. Die 93-Jährige ist stolz, Münchnerin zu sein, genauer gesagt: Haidhausenerin. Dort, am östlichen Isarhochufer, ist sie geboren, aufgewachsen und hat geheiratet. »Allerdings keinen Bayern, sondern einen Norddeutschen aus Oldenburg, der mich am Anfang gar nicht verstanden hat«, sagt sie und lacht.

»Keine Liebe brennt so heiß, wie die zwischen Bayer und Preiß!«, ruft Günther Holzkamm, der sich zur Kaffeerunde in den Gemeinschaftsraum des Seniorenzentrums dazugesellt. Er selbst ist gebürtiger Westpreuße und wurde 1960 als Jugendsekretär bei der IG Bergbau von Dortmund nach Miesbach versetzt. »Dafür habe ich schon hundert Mal innerlich Danke gesagt«, so der 88-Jährige, der als SPD- und AWO-Mitglied Inge Gabert, die dem Seniorenzentrum den Namen gab, noch persönlich kennengelernt hat. Sehnsucht nach seinem Geburtsort hat er nicht: »Ich lebe im Hier und Jetzt.«

Doch viele ältere Menschen wollen noch einmal die Heimat besuchen. Einen besonderen Service bietet deshalb das AWO Haus Weilerswist: Rundfahrten in die Vergangenheit. »Da gehen wir in die Kirchen, in denen die Bewohner einst geheiratet haben, wir besuchen Geschäfte, in denen sie einkauften, und schauen bei ihrer früheren Arbeitsstelle vorbei«, erzählt die Mitorganisatorin Angelika Kribbel. Andere wiederum erinnern sich lieber an ihre schönsten Freizeiterlebnisse. Wie die Bewohnerin, die so gerne ein Lied der Kölner Musikgruppe Höhner singt, um sich mit einer Mitbewohnerin an die gemeinsame Zeit auf dem Campingplatz zu erinnern: »… Do laachs do dich kapott, dat nennt mer Cämping, do laachs do dich kapott, dat fingk mer schön, wenn em Zelt de Mökke un de Hummele dich verjökke,
un do kanns dann nit eraus em Rähn …«

Ach, es gibt doch nichts Schöneres, als ein gesungenes Bekenntnis aus vollem Herzen für die Heimat.


Margot Köhler aus dem AWO Seniorenzentrum MIesbach | © Eric Langerbeins
Margot Köhler aus dem AWO Seniorenzentrum MIesbach | © Eric Langerbeins

Margret Köhler aus dem AWO Seniorenzentrum Miesbach:

»Ich komme aus dem Ötztal und bin schon als junges Mädel nach Deutschland übergesiedelt. Trotzdem fühle ich mich nach wie vor nur in Tirol zu Hause. Und wenn mich das Heimweh packt, dann esse ich Tiroler Knödel oder einen typischen Reisauflauf.«

 

Herbert Böhm aus dem AWO Seniorenheim Königsbrunn | © Eric Langerbeins
Herbert Böhm aus dem AWO Seniorenheim Königsbrunn | © Eric Langerbeins

Herbert Böhm AWO aus dem Seniorenheim Königsbrunn:

»Die ersten 15 Jahre meines Lebens verbrachte ich in Znaim, im heutigen Tschechien, wo ich in einem Grafenpalais mit Bediensteten aufwuchs. Dann wurden wir enteignet und ich kam nach Oberösterreich, später nach Königsbrunn. Dort war ich als Polizist im gehobenen Dienst tätig. Obwohl auch meine beiden Söhnen hier geboren sind, empfinde ich mich als Österreicher. Mit den Preußen hab ich es noch nie gehabt.«

 

Ursula Kammholz aus dem AWO Seniorenzentrum Miesbach | © Eric Langerbeins
Ursula Kammholz aus dem AWO Seniorenzentrum Miesbach | © Eric Langerbeins

Ursula Kammholz aus dem AWO Seniorenzentrum Miesbach:

»Wenn man nicht Bayerisch redet, dann gehört man irgendwie nicht richtig dazu. Deshalb komme ich mit Menschen leichter in Kontakt, die wie ich Hochdeutsch sprechen. Ich habe schon an vielen Orten gelebt: in Schlesien, Dresden, Köln, München und zuletzt am Schliersee. Aber zu Hause fühle ich mich erst, seitdem ich hier im AWO Haus wohne. Ich bin Heimbeiratsvorsitzende und kann endlich das tun, was ich immer wollte und mir Spaß macht.«

Inge Herrmann aus dem AWO Seniorenheim Königsbrunn | © Eric Langerbeins
Inge Herrmann aus dem AWO Seniorenheim Königsbrunn | © Eric Langerbeins

Inge Herrmann aus dem AWO Seniorenheim Königsbrunn:

»Obwohl ich schon seit über 40 Jahren gerne in Königsbrunn lebe und die Berge liebe, bin und bleibe ich eine waschechte Berlinerin. Beim Wort Heimat fällt mir sofort Eisbein mit Sauerkraut ein, eben: futtern wie bei Muttern.«

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