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»Demenz hat ein unglaublich positives Potenzial«

© Photo by Jessica Sysengrath on Unsplash

Seit zwölf Jahren begleitet der Fotograf Michael Hagedorn auf der ganzen Welt Menschen mit Demenz und hat das wohl größte Bildarchiv zu diesem Thema. Ein Gespräch über die besondere Kraft der Krankheit, seinen Verein »KONFETTI IM KOPF« und Rudi Assauer.

Michael Hagedorn, 53, hat sich als Fotograf auf das Thema Alter und Demenz spezialisiert.

AWO Journal: Wie kommt ein »Mann in den besten Jahren« dazu, sich so intensiv mit Demenz zu beschäftigen?

Michael Hagedorn: Ich hatte schon immer eine Affinität zu alten Menschen. Die erste Prägung kam durch meine Urgroßeltern, mit denen ich die Kindheit verbrachte. Als ich anfing über Demenz zu recherchieren, stieß ich nur auf negatives, trostloses Material. Damals stellte ich einen Förderantrag für ein Stipendium. Das nannte sich »Fremder im eigenen Leben« – der Name ist griffig, hat aber nichts mit den demenziell veränderten Menschen zu tun, bei denen oft ein unglaublich positives Potenzial zutage tritt.

Können Sie Beispiele nennen?

Oh ja, viele. Wie Werner Leypoldt aus Lörrach, der vier Jahre nach seiner Diagnose angefangen hat, Kunst zu machen und zum ersten Mal einen Ausdruck für seine Persönlichkeit fand. Innerhalb von anderthalb Jahren fertigte er über 160 großartige Bilder an. Es war wie ein kreativer Vulkanausbruch. Oder Bruno Koller aus Luzern, einer der angesehensten Karatelehrer der Welt. Er macht seine Übungen längst nicht mehr so sicher wie früher und verflucht oft die Demenz. Er sagt aber auch, dass sie ihm Türen beim Karate öffnet, weil es nicht mehr ums Ego geht. Wenn man den Verstand überwindet, offenbart sich etwas Spirituelles.

Gefühle spielen eine große Rolle in Ihren Fotos. Man sieht die Menschen tanzen, singen, lachen. Besonders rührend ist ein Bild, das eine Dame zeigt, die auf dem Rasen liegt und ganz verliebt auf ein Kaninchen guckt.

Diese Frau aus Berlin liebt dieses Kaninchen heiß und innig. Wenn ihr Sohn sie im Heim besucht, ist er eifersüchtig auf das Tier. Seine Mutter hat ihn nie in den Arm genommen, sie konnte ihm nicht die Liebe geben, die er sich gewünscht hat. Jetzt, in der Demenz, öffnet sie sich, und es wäre an ihm, über diese Brücke zu gehen undden Kontakt herzustellen. Aber das können viele nicht und verpassen damit eine große Chance.

Angehörigen fällt es oft sehr schwer, die Krankheit zu akzeptieren. Was könnte ihnen helfen?

Natürlich ist die Demenz eine riesengroße Zäsur für die ganze Familie. Aber wer dem Ganzen mit einer gewissen Leichtigkeit begegnet, sich mit dem anderen mit verändert, ihn für das nimmt, was er gerade ist, im Hier und Jetzt bleibt – wer das schafft, wird auch die schönen Dinge entdecken. Für mich ist es immer wieder spannend, solche Geschichten mit meinen Bildern zu erzählen. Wie die der Mutter, die früher nie Nähe zuließ und später nur noch mit ihrer Tochter kuscheln wollte. Da steckt so viel Heilung drin – nicht trotz, sondern wegen der Demenz!

Einen ganz anderen Zugang zur Krankheit haben die Ureinwohner Australiens, die Sie im Rahmen eines Stipendiums besuchten.

Stellen Sie sich vor: Unter den Aborigines ist die Demenzrate fünfmal so hoch wie bei den weißen Australiern! Dafür gibt es noch keine wissen-schaftliche Erklärung. Für mich war es spannend zu beobachten, dass gerade in den ländlichen Gegenden die Demenz mehr als Segen denn als Fluch wahrgenommen wird. Die Menschen scheinen über die »Verwirrtheit« einen besseren Zugang zu ihren Ahnen und Geistern zu haben. Faszinierend und exotisch.

Bleiben wir hierzulande, wo inzwischen fast 1,6 Millionen Menschen mit Demenz leben. Das Thema ist in der Gesellschaft angekommen, auch dank Filmen wie »Honig im Kopf« mit Didi Hallervorden. Das ist doch eine gute Entwicklung, oder?

Es hat sich vieles zum Positiven verändert, dennoch wird Demenz noch immer häufig als Schreckgespenst dargestellt. Das ist aber nur ein Teil der Wahrheit. Wir versuchen mit unserem Verein »KONFETTI IM KOPF« auch die anderen Seiten zu zeigen und Berührungsängste ab zubauen. Wer beispielsweise dienstags unser Café in Hamburg-Altona besucht, wird erstaunt sein über die Lebensfreude, die dort herrscht.

Das passende Stichwort für Ihren prominentesten »Protagonisten«. Sie begleiten seit fünf Jahren Rudi Assauer mit der Kamera. Der einstige Fußballstar wirkt auf vielen Fotos geradezu ausgelassen und scheint sich von der Demenz nicht unterkriegen zu lassen.

Ich glaube, Herr Assauer genießt es, nicht mehr der Macher sein zu müssen. Er strahlt eine große Zufriedenheit aus und ist noch immer sehr präsent. Bei jedem Schalke-Heimspiel ist er dabei, und wenn er das Stadion betritt, stehen alle auf und klatschen. Kurioserweise lernte ich Rudi Assauer vor zehn Jahren in einem anderen Zusammenhang kennen. Damals hatte sich ein Mann mit Demenz gewünscht, mit ihm auf Schalke eine Zigarre zu rauchen. Ich organisierte diese Begegnung – nichtsahnend, dass Herr Assauer selbst diese Diagnose bekommen wird und dass wir uns in diesem Zusammenhang später sehr viel näher kommen würden.

Weitere Infos finden Sie unter: www. konfetti-im-kopf.de

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