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Deutschland sucht den SuperSenior

Vergessen Sie Dieter Bohlen und den Jugendwahn. Wer jemals die »Ruhrpott-Revue« oder Auftritte der »Herbstzeitlosen« erlebt hat, weiß: Die wahren Superstars kommen aus Essen, sind bei der AWO und 60 plus.

Vorhang auf für Elvis Presley, Opa Anton und eine Geisha namens Erna.

Die Prominenz eines Jahrhunderts gibt sich die Ehre. Da wäre zunächst Udo Jürgens, bis zu den Schuhen ganz in Weiß gekleidet. Galant reicht er Nina Hagen, im schwarzen Lack-Korsett gegenüber, ein Glas Wasser. Die dankt es ihm und klimpert keck mit falschen Wimpern. Der Rest ist echt: von den Highheels bis zur roten Haarschleife, die die schwarze Mähne bändigt. Am Tischende nimmt die Grande Dame des deutschen Chansons, Evelyn Künneke, Platz. Sie hält ein Schwätzchen mit Schlagersänger Wolfgang Petri. Und plötzlich öffnet sich die Tür – herein kommt der King of Rock’n’ Roll persönlich. Mit Tolle, Sonnenbrille, Goldfransen und XXL-Kotletten. Alle klatschen, als Elvis die Arme hebt und Kusshände verteilt.

Willkommen bei den »Herbstzeitlosen«, dem AWO Seniorentheater aus Essen-Rüttenscheid, einer bunten Truppe von Laiendarstellern jenseits der 60.

Uschi Rafalski

»Wir haben dreißig bis vierzig Auftritte im Jahr, darunter auch in vielen Seniorenheimen«, erzählt Ingrid Wißkirchen, die 1997 das Ensemble mitgegründet hat.»Damals war ich auf der Suche nach etwas Sinnvollem – es hat mich nicht mehr erfüllt, von morgens bis abends auf dem Tennisplatz zu stehen.«

Als langjähriges AWO-Mitglied nahm sie Kontakt zur dortigen Theatergruppe auf und entwickelte schnell ein neues Konzept. Was mit kleinen Sketchen anfing, hat sich inzwischen zu einer professionellen Revue gemausert, bei der die Großen des Showbizz mit viel Liebe, Witz und Herzblut dargestellt werden.

»Manche sind erst einmal ein bisschen enttäuscht, wenn sie hören, dass wir nicht echt singen, sondern die Musik vom Band kommt«, so Frau Wißkirchen. »Aber wer uns einmal gesehen hat, bucht uns immer wieder.«

Kein Wunder, selbst bei der Probe dieser Oldie-Playback-Show stimmt jedes Detail – von der Goldkette mit Kruzifix um Elvis´ Hals bis zu den Freundschaftsbändern am linken Arm von »Wolle« Petri.

Irmhild Schmidtke

»Dann bin ich wohl an der Reihe«

»Wir legen größten Wert auf die Kostüme«, erzählt die Leiterin, die selbst nicht auf der Bühne steht, wohl aber ihre 88-jährige Mutter.

»Die Älteste fängt an«, ruft eine Dame mit mondänem Hut und läuft nach vorne. »Dann bin ich wohl an der Reihe«, erwidert eine andere im Japandress und nimmt ihr das Mikrofon aus der Hand. »Schließlich bin ich vierzehn Tage älter als du.« Allgemeines Gelächter – bis die Musik ertönt und sich Erna Kuhnke, Jahrgang 1924, in die einstige Grandprix-Gewinnerin Jacqueline Boyer verwandelt. Oder besser gesagt in eine Geisha, die mit einer solch grazilen Zurückhaltung das Lied »Heute Abend ist Laternenfest« präsentiert, dass das Publikum vor Rührung glänzende Augen bekommt. Dann endlich hat Cilli Hagedorn-Benzler ihren Auftritt. Man merkt sofort, dass sie nicht erst als »Herbstzeitlose« Theaterluft schnuppert. Die 88-Jährige hat eine Schauspiel- und Tanzausbildung, ging im Krieg auf Wehrmachtstournee und danach fünf Jahre nach Italien, wo sie als Vertreterin der Lili-Marleen-Generation durchs Land tingelte.

»Wer das mitmacht, kennt keine Angst«, sagt die gebürtige Berlinerin.

Cilli Hagedorn

Die Leute rufen »Wolle, gib Gas« und echoen »Hölle, Hölle« und »Wahnsinn, Wahnsinn«

Furchtlos und neugierig bewarb sie sich 2010 bei der Casting-Show »X-Faktor«, wo sie nicht zuletzt wegen ihrer Schlagfertigkeit zum TV-Liebling avancierte. Jetzt, im Proberaum des AWO Gotthard-Daniels-Hauses, begeistert sie mit demselben Song: »Ham se nich ‘nen Mann für mich?« Diese Frage stellte sich für »la Hagedorn« übrigens nie – sie war zweimal glücklich verheiratet, das erste Mal mit dem früh verstorbenen politischen Karikaturisten »Tüte«, mit dem sie einst von Berlin nach Essen zog, wo sie die legendäre Kneipe »Cilli’s Milljöh« betrieb.

Höhepunkt der Performance ist aber na-türlich Elvis, der mit »Look like an angel« und seinem Hüftschwung den Proberaum zum Beben bringt. Dabei war die Nummer zunächst nur eine Notlösung:

»Als ich zur Truppe stieß, waren bereits alle Frauenfiguren besetzt«, so Inge Gritzan. »Also eignete ich mir Männerrollen an und trete jetzt auch als DJ Ötzi und Klaus & Klaus auf«, sagt die Ex-Krankenschwester und lacht.

Klaus Wiechardt
Erna Kuhnke

Ähnlich erging es Irmhild Schmidtke, die nie auf die Idee gekommen wäre, Wolfgang Petri darzustellen. Inzwischen gehört ihr Auftritt zu den Stimmungsmachern. Die Leute rufen »Wolle, gib Gas« und echoen »Hölle, Hölle« und »Wahnsinn, Wahnsinn«. Es ist nicht nur ein riesiges Vergnügen, die einzelnen Charaktere zu erleben, sondern auch, mit welcher Freude, Kreativität und Lebenslust sie von den »Herbstzeitlosen« interpretiert werden. Drei bis fünf Figuren hat jeder Darsteller im Repertoire. Bis eine Nummer perfekt sitzt, dauert es mehrere Monate. Ein Hobby, in das die Senioren von der AWO Essen viel Engagement und Zeit investieren.

»Ich höre mir eine CD mindestens dreißig Mal an, damit jede Nuance gelingt«, erzählt Claus Wiechardt, der einzige Mann der Truppe – zumindest auf der Bühne. »Die anderen verstecken sich hinter der Technik; denen fehlt der Mut«, meint der hochgewachsene, schlanke 82-Jährige, der als Udo Jürgens und Peter Alexander besonders glaubwürdig wirkt.

Wie er zur AWO Theatergruppe kam? »Reiner Zufall. Ich hörte in einem Plattengeschäft, wie eine Frau nach dem Song »Mäcki war ein Seemann« fragte und ihr der Verkäufer nicht helfen konnte. Ich wusste auf Anhieb, wo die Platte stand, und fragte die Frau, wofür sie die brauche. Da erzählte sie mir von den ›Herbstzeitlosen‹ … Inzwischen bin ich seit acht Jahren dabei. Und es tut noch immer unglaublich gut, die Sympathien zu spüren, die einem so während der Show entgegenströmen.«

Theaterspielen fördere die körperliche und geistige Beweglichkeit, bringe Erfolgserlebnisse und Wertschätzung, so Eva Bittner, Sprecherin der Berliner »Werkstatt der alten Talente«, eines der etabliertesten Seniorentheater Deutschlands. »Die eigene Lebenserfahrung und Persönlichkeit in die Stücke einzubringen ist gesellschaftliche Teilhabe.«

Das findet auch Bodo Roßner, ein AWO Urgestein und der Macher der »Ruhrpott- Revue«, die auf humorvoll-anspruchsvolle Art in Dialogen und Liedern das Älterwerden in der Gesellschaft sowie die Menschen im Revier zwischen Kohle, Kultur und Pflegealltag thematisiert.

Waldburga Lindow

»Vor fünf Jahren bekam ich Krebs«, erzählt der 72-Jährige. »Ich habe mich nicht lange mit der Diagnose befasst, sondern mir überlegt, wie ich die restliche Zeit sinnvoll und mit Spaß verbringen kann.«

Also gründete er 2009 das Mehrgenerationenprojekt, unterstützt von seinem langjährigen Freund Karlheinz Freudenberg vom AWO Kreisverband Essen, der auch die »Herbstzeitlosen« coacht sowie bei der »Ruhrpott-Revue« als Sänger und Songwriter agiert. Inzwischen tourt die Kleinkunsttruppe höchst erfolgreich durch Nordrhein-Westfalen und trifft mit Stücken wie »Kumpel Anton geht in Rente« oder »Bodo, der Ruhrpott-Hippie-Oppa« den Nerv der Zuschauer. Nicht anders im Proberaum der AWO: Als das Oldie-Quartett der »Ruhrpott-Revue« anfängt zu singen »Wir leben hier im Revier, spielen Skat und trinken Bier«, hält es auch Wolle, Nina Hagen und Elvis aus Essen nicht mehr auf ihren Stühlen. Denn da sind sich alle einig: Spaß inne Backen muss sein!

Infos: www.ruhrpott-revue.de und www.herbstzeitlose.repage1.de
Bundesarbeitskreis Seniorentheater: www.bdat.info/cms/front_content.php?idcat=97

»Ruhrpott-Revue«
»Die Herbstzeitlosen«

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