in

Geschwister – Ein Bund fürs Leben

Zwei von acht: Frieda Nickel, 89,(li.) und Emma Jaschinski,100, waren auf dem elterlichen Hof in Ostpreußen insgesamt drei Brüder und fünf Schwestern. Im AWO Julie-Kolb-Seniorenzentrum hat zwar jede von ihnen ihr eigenes Reich, aber Mahlzeiten und Freizeitprogramme verbringen die beiden Damen gern gemeinsam.

Sie erfahren die dauerhaftesten Bindungen im Leben eines Menschen. Ihre gemeinsame Herkunft und Entwicklungsgeschichte bilden ein unauflösbares Band – bis ins hohe Alter, wie sich beim Besuch in den AWO Seniorenzentren von Niedersachsen bis Oberbayern zeigte. Ein Bericht von großen »Beschützer«-Brüdern, kleinen kecken Schwestern und dem schönen Gefühl der Zusammengehörigkeit.

Große Schwester: Erika Heitland (li.) fühlt sich seit Kindestagen verantwortlich für die sieben Jahre jüngere Rita Roth.

Erika wurde 1940 in eine Welt der Hoffnungslosigkeit geboren: Der Vater war im Krieg, die Mutter voller Sorge, und überall herrschten Hunger und Not. Als das Mädchen vier Jahre alt war, kam es in seiner Heimat Bielefeld zum schwersten Luftangriff, bei dem fast die gesamte Innenstadt zerstört wurde und rund 650 Menschen den Bomben zum Opfer fielen. Auch Erikas Vater war inzwischen gefallen. Es gab lange nichts außer Verzweiflung – bis zur Geburt von Erikas Halbschwester am 10. Mai 1947. Rita bedeutet »Kind des Lichts«, und als solches wurde sie von allen empfangen. »Ich habe mich so sehr gefreut, als da dieses Körbchen stand«, erinnert sich Erika Heitland. Trotz des Altersunterschieds von sieben Jahren, verbrachten die beiden Mädchen viel gemeinsame Zeit miteinander.

»Mit Rita holte ich quasi meine Kindheit nach und konnte endlich mit Puppen spielen, die es ja im Krieg nicht gab.«

Die zwei verschiedenen Väter waren nie ein Thema zwischen ihnen. Erika ist bis heute die große Schwester, die um- und versorgt. Früher strapazierte Rita die Nerven der Familie mit riskanten Klettereien auf Bäume und mit ihrem nicht allzu großen Interesse für die Schule. »Ich strickte oft die Sachen fertig, die meine Schwester im Handarbeitsunterricht nicht hinbekam«, so Erika Heitmann, die zugibt, dass sie Rita manchmal um deren Unbekümmertheit beneidete. Eine andere Bewohnerin im AWO Haus »Baumheide« bekommt auch gerade Besuch von ihrer großen Schwester.

Anna Neumaier ist selten zum Lachen zumute: Die gebürtige Kasachin sorgt sich um ihre psychisch kranke Schwester Maria, die im Bielefelder AWO Seniorenzentrum »Baumheide« untergebracht ist.

»Ich habe mich mein ganzes Leben um Maria gekümmert«, sagt Anna Neumaier, die ein Schleier von Traurigkeit umgibt. Die 80-Jährige erzählt, dass sie 1997 aus Kasachstan in den Westen kam und bis heute vergeblich versucht, ihre zwei Söhne und vier Enkel nach Deutschland zu holen. Maria sei nach dem Unfalltod ihres Sohnes psychisch erkrankt, weshalb Anna nicht in die Heimat zurückkehren wolle. »Ich kann Maria nicht allein lassen«, sagt sie mit fester Stimme, die wohl jegliche Selbstzweifel übertönen soll.

Typisch Erstgeborene, würde der Psychotherapeut Mathias Jung sagen, u. a. Autor des Buches »Geschwister – Liebe, Hass, Annäherung«. »Das erste Kind übernimmt oft früh Verantwortung und neigt ein Leben lang dazu, alles richtig machen zu wollen.«

Anton Kern (Mitte) kümmert sich um seine Zwillingsbrüder Georg und Rudolf Kern, die im AWO Seniorenzentrum in Freilassing wohnen.

Das trifft wohl auch auf die nächsten beiden Fälle zu. Da ist einmal Anton Kern aus dem Berchtesgadener Land, der als Schulkind die Rolle des im Krieg verlorenen Vaters einnahm. »Meine Mutter war plötzlich alleinerziehend mit drei kleinen Kindern«, so der 77-Jährige.

»Ich unterstützte sie im Haushalt und versuchte immer gute Noten zu schreiben, um nicht zur Last zu fallen – zumal meine jüngeren Zwillingsbrüder schon damals seelisch labil waren.« Seit dem Tod der Mutter ist Anton Kern Betreuer und Helfer bei der Verwaltung der Finanzen und in allen Fragen des täglichen Lebens von Georg und Rudolf. Zweimal wöchentlich besucht er sie, spielt mit ihnen Schach und Karten. Für ihn ist das kein Opfer, sondern selbstverständlich.

Fürsorge empfindet Heinz Sander für seine Schwester Marianne, die im AWO »Feierabendhaus« in Bad Salzuflen wohnt.

Auch Heinz Sander aus Bad Salz-uflen sieht es als brüderliche Pflicht, sich seiner sieben Jahre jüngeren Schwester Marianne anzunehmen, die an einem Aneurysma im Gehirn leidet und seit 2008 im »Feierabendhaus« der AWO wohnt. Blut ist eben dicker als Wasser. Fast täglich kommt er mit seiner Frau vorbei – nicht nur auf einen Sprung, sondern immer gut zwei Stunden.

Sie erinnern sich gern an ihre Kindheit, auch wenn sie sich viel gegenseitig geärgert haben. »Ich weiß noch, wie wir ›Schlachter‹ spielten und ich meine Schwester mit dem Fuß ans Tischbein band«, erzählt Heinz Sander und grinst dabei schelmisch. »Natürlich musste sie auch umfallen.«

Kurt Tucholsky antwortete einmal auf die Frage, was Geschwister von wilden Indianerstämmen unterscheidet: »Wilde Indianer sind entweder auf Kriegspfad oder rauchen Friedenspfeife – Geschwister jedoch können gleichzeitig beides.« Streit, Eifersucht, Neid gehören laut des Geschwisterforschers Hartmut Kasten genauso dazu wie Vertrautheit, Innigkeit und Nähe. Und selbst wenn es mal zu einem Bruch kommt, näherten sich zwei Drittel der Geschwister mit dem Älterwerden wieder an.

»Sie lassen das Leben Revue passieren und sind  mit sich im Reinen.«

Bei aller Harmonie – gibt es denn nichts, Herr Sander, was Sie an Ihrer Schwester stört? »Sie könnte etwas schlanker sein«, sagt er, und wieder blitzt dieses Lausbubenlächeln hervor. Und was mag er an Marianne besonders gerne? »Dass sie ihr Schicksal ohne Jammern hinnimmt. Bewundernswert.«  Ob Hänsel und Gretel, Brüderchen und Schwesterchen oder Schneeweißchen und Rosenrot – die Märchenwelt ist reich an Geschichten von unzertrenn- lichen Geschwistern. Sie alle verbindet ein besonders hartes Schicksal, das sie gemeinsam meisterten.

Seit über 50 Jahren unzertrennlich: Anna-Maria (unten) und Erna Pecher aus dem oberbayerischen Sauerlach.

Grimm’sches Potenzial hat auch die Biografie von Anna-Maria (85) und Erna (91) Pecher. Die beiden wuchsen im Sudentengebiet auf, allerdings getrennt. Weil die Eltern arm waren, schickten sie Erna nach der Geburt der zweiten Tochter zu einer kinderlosen Tante. Später arbeitete die eine als Näherin, die andere in einer Porzellanfabrik. 1947 flohen beide mit dem Roten Kreuz ins oberbayerische Sauerlach. Ab da blieben sie zusammen und teilten sich 50 Jahre eine Wohnung. Heute leben die Pecher-Schwestern im AWO Seniorenzentrum und sind froh, sich auch im Alter zu haben. »Nichts geht ohne die andere«, erzählt Sozialdienstleiterin Sabine Martin.

»Als Erna mal drei Wochen zur Reha musste, machte sich Anna-Maria fürchterliche Sorgen.« Die zwei bewegen sich wie Synchronschwimmerinnen, was manchmal skurrile Züge annimmt: Weil Anna-Maria fast taub ist, schaut auch Erna ohne Ton Fernsehen. Nicht auszudenken, wie schmerzhaft der Tod für die jeweils andere sein wird.

Es vergeht kein Tag, an dem Ursula Strauch aus dem AWO »Robert-Nussbaum-Haus« nicht an ihre verstorbene Schwester Irmgard denkt.

Ursula Strauch aus dem AWO »Robert-Nussbaum-Haus« in Minden musste diese Erfahrung vor einigen Monaten machen, als ihre Schwester Irmgard verstarb. »Seit Kindesbeinen an gab es uns nur im Doppelpack«, erzählt die 90-Jährige. »Wir gingen sogar in dieselbe Klasse und wurden wie Zwillinge behandelt.« Anders als ihre Schwester, blieb sie allerdings ledig. »Das war anfangs ein Problem; aber dann hatte ich ein sehr schönes Verhältnis zu ihren Kindern und unterstützte sie auch finanziell.« Als Irmgards Mann starb, begann die Zeit des gemeinsamen Verreisens. »Allein auf Teneriffa haben wir 13 Mal Urlaub gemacht.« Jetzt besteht die größte Herausforderung, ohne Irmgard den Alltag zu meistern.

Zwei von acht: Frieda Nickel, 89,(li.) und Emma Jaschinski,100, waren auf dem elterlichen Hof in Ostpreußen insgesamt drei Brüder und fünf Schwestern. Im AWO Julie-Kolb-Seniorenzentrum hat zwar jede von ihnen ihr eigenes Reich, aber Mahlzeiten und Freizeitprogramme verbringen die beiden Damen gern gemeinsam.

Zwölf Jahre und etliche andere Geschwister liegen zwischen Frieda und Emma, die auf einem Hof im ostpreußischen Langenwalde aufwuchsen. Bei so vielen Sprösslingen ging es natürlich nicht immer friedlich zu. »Wir waren froh, als die Älteren auszogen und wir mehr Luft im Haus hatten«, erinnert sich die 89-jährige Frieda Nickel. »Schafft euch nur nicht so viele Kinder an«, warnte die Mutter ihre Töchter. Beide Frauen hatten später dann jeweils nur eines, was zur damaligen Zeit die Ausnahme war. 2011 zog Emma Jaschinski, die im September 101 (!) wird, in das Julie-Kolb-Seniorenzentrum Marl, wo bereits ihre Schwester wohnte. »Eigentlich hatte ich gedacht, dass ich irgendwann mal zu ihr ziehen kann, doch dann bekam Frieda einen Herzinfarkt«, erzählt die betagte Dame, die sich mit Zeitungslektüre, gesunder Ernährung und schwesterlichem Schlagabtausch fit hält. Übrigens: Die beiden bekommen regelmäßig Besuch – von ihrer 92-jährigen Schwester Hedwig aus Bottrop.

Passend zum Thema ein Gedicht der deutschen Schriftstellerin  Marie Luise Kaschnitz (1901 – 1974):

Geschwister
Was anders heißt Geschwister sein
als Abels Furcht und Zorn des Kain,
als Streit um Liebe, Ding und Raum,
als Knöchlein am Machandelbaum.
Und dennoch, Bruder, heißt es auch
die kleine Bank im Haselstrauch,
den Klageton vom Schaukelbrett,
das Flüstern nachts von Bett zu Bett,
den Trost –
Geschwister werden später fremd,
vom eigenen Schicksal eingedämmt,
der alten Nebenbuhlerschaft,
und keine andere vermag so bittres Wort,
so harten Schlag.
Und doch, sooft man sich erkennt
und bei den alten Namen nennt,
auf wächst der Heckenrosenkreis.
Du warst von je dabei. Du weißt.

Kommentare

Schreibe einen Kommentar

Loading…

0

Teens zur Arbeit im Seniorenzentrum

»Wenn du mich fragst …«