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Kann man Beruf und Pflege miteinander vereinbaren?

© UNSPLASH - Jacek Dylag

Prof. Dr. Annette Franke ist Dipl.-Sozialwissenschaftlerin und lehrt an der Evangelischen Hochschule Ludwigsburg Gesundheitswissenschaften, Soziale Gerontologie und Methoden und Konzepte der Sozialen Arbeit. Zu ihren Arbeitsschwerpunkten gehört das Thema Vereinbarkeit von Beruf und Pflege bei räumlicher Distanz.

Frau Prof. Dr. Franke, heutzutage wohnen immer weniger Menschen in direkter Nachbarschaft zu ihren Eltern. Wie wirkt sich das auf das Thema Pflege aus?

Es stellt alle Beteiligten vor große Herausforderungen. Aufgrund der steigenden Arbeitsmobilität und veränderten Familienstrukturen leben viele Angehörige räumlich weit voneinander entfernt. Wenn dann z. B. Mutter oder Vater pflegebedürftig werden, müssen die Kinder aus der Ferne helfen, was körperlich und emotional enorm belastend sein kann.

Was heißt das konkret?

Oft fühlen sich die Angehörigen gestresst und erschöpft, weil sie Kinder, Job und die pflegebedürftigen Eltern unter einen Hut bringen müssen. Gleichzeitig empfinden sie Schuldgefühle und Hilflosigkeit, einen Verlust von Kontrolle, weil man nicht schnell vor Ort sein kann, wenn ein Notfall eintritt. Viele nehmen sich auch gar nicht als pflegende Angehörige wahr, weil sie weniger Körperpflege leisten, sondern eher emotionale Unterstützung bieten. Was sie dabei selbst oft nicht sehen, ist, dass viele von ihnen Meister*innen im Selbstmanagement sind und hervorragende organisatorische Arbeit leisten.

Wo entstehen die größten Konflikte?

Innerhalb der Familien. Oft kommt es zu Streit zwischen den Geschwistern, etwa wenn es um gerechte Aufgabenverteilung und die Frage nach Zuständigkeiten geht. Viele pflegende Angehörige wünschen sich auch mehr Unterstützung von ihrerm Partnerin oder den eigenen Kindern.

Inwiefern spielt auch die Vereinbarkeit mit dem Beruf eine Rolle?

Pflege auf Distanz kann sich zwar auf die Arbeit auswirken, etwa weil die Angehörigen weniger konzentriert sind und auch öfter mal einen Tag freinehmen müssen. Das Thema Pflege ist oftmals noch ein Tabu am Arbeitsplatz. Das kann zu Missverständnissen führen, wenn nicht alle Bescheid wissen. Aber selten entstehen dadurch echte Konflikte mit demder Arbeitgeberin. Andererseits haben wir festgestellt, dass seitens der Unternehmen das Bewusstsein für diese Problematik wächst und es vor allem in größeren Unternehmen stetig mehr Maßnahmen und Angebote für pflegende Angehörige gibt. Das sind etwa Sensibilisierungsworkshops für Führungskräfte, direkte Ansprechpersonen oder Broschüren.

© UNSPLASH – anthony-tran
Wie können pflegende Angehörige aus der Ferne helfen?

Das Wichtigste ist, dass sie vor Ort ein stabiles Netzwerk aufbauen, dazu gehören der Freundes- und Bekanntenkreis, eine nette Nachbarschaft sowie Apotheken und Hausarztpraxen in der Nähe. Daneben sind sie enorm auf zuverlässiges und vertrauenswürdiges Pflege- und Fachpersonal angewiesen, denn sie können bei Schwierigkeiten ja eben nicht so schnell reagieren. Da kann ein nicht aufgelegter Telefonhörer oder ein verlegter Schlüssel zum echten Problem werden.

Kann die Digitalisierung hier nicht helfen?

Ja, in einigen Situationen können moderne Technologien in der Tat unterstützen. Dank Handys, Videoübertragung und Email ist Kommunikation ja heute über alle Distanzen hinweg möglich. Dafür müssen die Pflegebedürftigen diesen Techniken gegenüber aber aufgeschlossen sein und auch in der Lage, diese zu bedienen. Das kann je nach Gesundheitszustand auch mal schwierig sein. Auch im Bereich des Ambient Assisted Living, also der altersgerechten Assistenzsysteme, passiert viel: Ein Beispiel, das jeder kennt, ist der Notrufknopf, der mit einem Pflegedienst verbunden ist. Darüber hinaus gibt es z. B. Sturzmatten, die registrieren, wenn jemand gefallen ist, Apps, die an die Medikamenteneinnahme erinnern, und Demenzuhren, die deutlich den Wochentag und das komplette Datum anzeigen.

Wird die Technik also auch in diesem Bereich in Zukunft einen großen Teil der Arbeit übernehmen?

Nein, Angehörige sollten nicht versuchen, damit die fehlende Nähe zu ersetzen. Das wäre nicht der richtige Ansatz. Außerdem gibt es auch ethische Grenzen. Beispielsweise, wenn etwa im Wohnzimmer der Mutter eine Kamera installiert wird. So etwas bleibt für mich eine fragwürdige Form der Überwachung.

Wie kann man pflegenden Angehörigen denn das Leben erleichtern?

Außenstehende sollten mehr Verständnis für sie und ihre Situation zeigen. Was Pflegestrukturen betrifft, würden sie weniger Bürokratie und z. B. mehr Kurzzeitpflegeoptionen entlasten. Wünschenswert wäre auch ein größeres Angebot an Mediation und Familientherapien. Betriebe können etwa durch flexible Arbeitszeiten einen wertvollen Beitrag leisten.

Was raten Sie entfernt lebenden Familien?

Setzen Sie sich früh genug zusammen und überlegen Sie gemeinsam, wie die Zukunft aussehen könnte und welche Szenarien denkbar und realistisch sind: Welche Arztpraxen, Apotheken, Pflegedienste gibt es in der Nähe? Sind Nachbar*innen da, die kleine Aufgaben übernehmen können? Wer innerhalb der Familie kann welche Aufgaben übernehmen? Dabei sollte man auch die großen Fragen stellen: Ist es realistisch, dass ich wieder in die Heimat ziehe? Oder könnt ihr euch vorstellen, im Alter noch mal in eine andere Stadt zu ziehen? Ein ehrliches Gespräch hilft beiden Seiten.


INFOS & ADRESSEN

PFLEGESTÜTZPUNKTE

Auf der Website des Zentrums für Qualität und Pflege kann man nach Eingabe der Postleitzahl nach gelisteten Pflegestützpunkten in der Umgebung suchen. www.zqp.de/beratung-pflege

PFLEGETELEFON

Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend bietet unter der Nummer 030 20179131 von Montag bis Donnerstag jeweils von 9 bis 18 Uhr Expertenrat. In belastenden Situationen können sich sowohl Angehörige als auch Pflegebedürftige anonym beraten lassen.

VERBAND PFLEGEHILFE

Der Verband Pflegehilfe berät Angehörige online und per Telefon in allen Fragen rund um das Thema Pflegebedürftigkeit – von Pflegegeld über Toilettensitze bis hin zu freien Senioren-WGs in der Nähe. Sie erreichen den Verband täglich von 8 bis 20 Uhr unter 06131 8382160. www.pflegehilfe.org

ALZHEIMER UND WIR

Peggy Elfmann ist Journalistin, Mutter von drei Kindern und pflegt ihre an Alzheimer erkrankte Mutter, die 400 Kilometer von ihr entfernt lebt. Auf ihrem Blog »Alzheimer und wir« schreibt sie ehrlich und berührend über ihr ewig schlechtes Gewissen, den Umgang mit der Krankheit in der Familie und darüber, wie sie aus der Ferne für ihre Eltern da sein kann. www.alzheimerundwir.com

© iStockphoto – Morsa Images

TIPPS FÜR ANGEHÖRIGE UND SENIOR*INNEN

VORBEREITUNG FÜR DEN ERNSTFALL

Leider sprechen immer noch viel zu wenige Familien offen miteinander über so unbequeme Themen wie Beerdigung, Patientenverfügung und Pflege im Alter. Dabei erleichtert das die Situation im Ernstfall enorm und gibt beiden Seiten ein Gefühl von Sicherheit und Kontrolle. Legen Sie am besten gemeinsam einen Ordner mit wichtigen Unterlagen an. Sammeln Sie Informationen zu behandelnden Ärzten, Medikamenten, Versicherungen. Sprechen Sie auch über die finanzielle Situation und rechtlich wichtige Dokumente wie etwa die Patientenverfügung und die Vorsorgevollmacht

BERUFLICHE AUSZEIT

Tritt die Pflegesituation ganz plötzlich ein, bricht über den entfernt lebenden Angehörigen alles zusammen. Wie bringt man jetzt am besten den Job, die eigene Familie und dieden erkrankten Angehörigen unter einen Hut? Um kurzfristig die Pflege zu organisieren und sich in der Situation zurechtzufinden, kann man als Angehörige*r unter bestimmten Voraussetzungen ab Eintritt der Pflegesituation bis zu zehn Tage Arbeitsfreistellung beantragen. Dieser Anspruch ist gesetzlich verankert. Für diese Zeit steht Ihnen das Pflegeunterstützungsgeld zu. Diese Lohnersatzleistung muss bei der zuständigen Pflegekasse beantragt werden.

DIGITALES TAGEBUCH

Mithilfe eines digitalen Tagebuchs können sich pflegende Angehörige auch aus der Ferne gegenseitig auf dem Laufenden halten. Legen Sie dafür ein Dokument an, in dem etwa Blutdruckwerte, einzunehmende Medikamente oder Arzttermine notiert werden. Der Umfang lässt sich natürlich individuell beliebig erweitern. Auch kurze Notizen zum .Allgemeinzustand oder zur emotionalen Verfassung – beider Seiten – können hilfreich sein. Wann immer eine Angehöriger vor Ort ist, macht sieer Notizen und gibt sie im Anschluss an den Rest des Familien-»Pflegeteams« weiter. Wichtig ist, dass das Dokument so abgespeichert wird, dass jeder Zugriff darauf hat, das geht z. B. per Dropbox.

ZEIT FÜR SICH NEHMEN

Als pflegender Angehöriger aus der Ferne ist man oft rund um die Uhr für das Pflegepersonal oder die Nachbarschaft erreichbar. Vereinbaren Sie mit Ihrem Netzwerk vor Ort einen Abend in der Woche oder einen Vormittag am Wochenende, an dem Sie für ein oder zwei Stunden wirklich nicht erreichbar sind. Tun Sie in dieser Zeit etwas, das Ihnen Spaß macht, und lassen Sie das Handy am besten zu Hause. Gehen Sie spazieren, hören Sie Musik oder meditieren Sie. Es ist wichtig, auch die eigenen Akkus wieder aufzuladen und sich ruhig auch mal selbst auf die Schultern zu klopfen.

AUSTAUSCH MIT ANDEREN

Reden Sie! Teilen Sie Ihrer Partnerin, Ihrem Partner, Ihren Freundinnen mit, was Sie belastet. Sprechen Sie über Ängste und Zweifel. In größeren Städten, in denen viele Zugezogene leben, gibt es Selbsthilfegruppen, in denen sich Betroffene austauschen, gegenseitig unterstützen und Trost zusprechen können. Das Gefühl, dass man nicht alleine ist und verstanden wird, bringt oft schon Erleichterung. Professionelle Hilfe bieten neutrale Coachs oder Therapeutinnen.

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