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Nur ein Viertelstündchen

von der Gast-Autorin Ingrid Kampling

 

Ich trete den Ständer meines gelben Fahrrades herunter. Wieder entsetzliche Stiche im Knie. Noch zwanzig Schritte bis zur Haustür: DROSSELGASSE 1. HETHA MAYER. Es dauert lange, bis das Summen des elektrischen Türöffners ertönt. Ich kenne das, auch die 56 Stufen bis zum 3. Stock.

Im Treppenhaus kommt mir der Geruch von Mittagessen entgegen. Mir knurrt der Magen. Frau Mayer steht (wie immer am Monatsende) etwas gebückt und freundlich lächelnd im Türrahmen. „Kommen Sie herein. Ich habe schon auf Sie gewartet.“

Ich folge ihren schlürfenden Schritten bis zum Küchentisch. „Würden Sie bitte unterschreiben, Frau Mayer?“ „Ja, ja. Augenblick. Wo ist denn bloß meine Brille? Andauernd ist sie weg. Setzen Sie sich doch! Nur ein Viertelstündchen, bitte!“

Ich denke an die vielen Briefe in meiner Posttasche, an die vielen Treppenstufen…an mein Knie…an die Arbeit danach, wenn ich zu Hause bin…

“Gut“, sage ich, als meine Augen sich mit ihrem flehenden Blick treffen, ziehe einen Stuhl unter dem Tisch hervor und setze mich.

„Wissen sie, mit 72 kann man das alles nicht mehr so schnell. Da hat Zeit eine andere Bedeutung. Früher…“ „Ich weiß, Frau Mayer.“, unterbreche ich ihren mir so bekannten Redefluss. Wenn sie erst anfängt, findet sie kein Ende. Schnell lege ich die Zahlungsanweisung auf den Tisch. Zitternd kritzelt sie einen Buchstaben nach dem anderen auf das Papier. „Früher, da bekam ich immer gute Noten, weil meine Schrift so gut und sauber war“, strahlt sie mich stolz an.

„Aber es geht doch. Hertha Mayer, mit ay. Man kann es lesen. Das ist die Hauptsache.“ Ich zähle einen Schein auf den anderen. Es knistert. Die Uhr schlägt zwölf. Jetzt das Kleingeld. „Das ist wirklich nicht viel Rente, nicht wahr?“ Ihre Augen durchforschen mich. Was soll ich sagen? Dass es Menschen gibt, die deutlich weniger haben? Dass es ihr noch relativ gut geht. Sie kann noch laufen.

“Es kommt darauf an, was man davon alles bezahlen muss“, sage ich und bin mit meiner Antwort heute zufrieden. „Nun. 7oo bekommt schon allein die Frau, die mich hier betreut.“ „Betreut?“ frage ich. „Ja, die hier sauber macht und so.“ „Ach, ja?“ Meine Augen schweifen über Fettflecke und Krümel auf dem Tisch, Speisereste auf Herd und Fußboden. „Na, dann sind Sie ja nicht so allein.“ „Oh, doch. Ich bin sehr allein. Aber dafür bin ich wenigstens nicht in so einem Heim, wenn sie wissen, was ich meine?!“
…Ich habe auch schon von Menschen gehört, die gern in einem Seniorenheim sind. Doch soll ich ihr das jetzt erzählen? Ich schlucke. „Zählen Sie bitte nach, Frau Mayer.“ „Das soll schon stimmen.“ Achtlos schiebt sie das Geld beiseite.

„Kommen Sie. Ich zeig ihnen was. Winkend fordert sie meine Aufmerksamkeit. „Hier, das ist mein Mann“, sagt sie und hält ein Bild vor mein Gesicht. „Das heißt, er war es“, fügt sie leise hinzu. „Ein feiner Mensch, wissen Sie?! Und das ist mein Sohn. Gefallen…zum Schluss…in Italien…der Krieg, eine schlimme Zeit…“

Gleich fängt sie wieder an zu weinen. Ich will hier raus! signalisiert mein Kopf. Liebevoll gleiten ihre Finger über sein Gesicht. Bevor sie das Bild wieder wegstellt, wischt sie mit dem Ärmel ihrer grau-schwarzen Bluse über den Silberrahmen, von dem es gehalten wird. „Und hier…“

Was jetzt kommt, kann ich heute nicht ertragen. Ich drehe mich geschickt in Richtung Tür. „Frau Mayer. Bitte. Ich muss jetzt gehen!“ „Wie?? Haben Sie denn heute gar keine Zeit für mich?!“ Ich schlucke ihre Angst und den leisen Vorwurf hinunter und folge ihrem nächsten Bild. „Hier, meine Tochter Anna. LEUKÄMIE! Eine furchtbare Krankheit. Eine furchtbare Zeit, wissen Sie?!“ „Ja“, sage ich kaum hörbar. „Ich weiß“!!

Ich schaue aus dem Fenster. Die Erinnerung bringt meine Beine zum Zittern und treibt das Blut aus meinem Kopf. „Aber heute“, höre ich in der Ferne meine Stimme, „kann man das heilen.“ „Ja. Heute. Aber für meine Anna ist das zu spät.“ Sie zieht ein Taschentuch aus dem Blusenärmel und schnäuzt hinein. „Ja“, sage ich, und denke an meine Antje, für die war es damals nicht zu spät…

„Was haben Sie denn? Mein Gott, Sie sind ja ganz blass. Ist ihnen nicht gut? Kommen Sie, trinken Sie ein Glas Wasser!“ Zitternd hält sie mir ein Glas entgegen. Aber ich mag daraus nicht trinken. Ich mag auch ihre Fürsorge nicht. Dennoch lasse ich sie über mich ergehen. „So legen Sie sich doch ein Weilchen hin.“ „Nein, danke, Frau Mayer. Es ist nur… es ist so warm bei Ihnen. Ich muss raus. Ich brauche viel frische Luft. Deshalb habe ich auch diesen Beruf… und… ich muss weiter…meine Zeit. Es geht schon wieder. Vielen Dank.“

Wie ein Mensch, der dem anderen das Leben gerettet hat, strahlt sie mich an. „Na dann. Alles Gute für Sie. Bis zum nächsten Mal. Und auf wieder sehen!“ klingt es noch in meinen Ohren, als ich an meinem Fahrrad angekommen bin.

Ich weiß genau: Sie wartet oben am Fenster auf die letzte freundliche Geste von mir – bis ich in vier Wochen wieder komme. Ich winke, wende mich meiner Tasche zu und weiß: dort steckt noch eine Anweisung für Frau Drechsler. Sie ist 82 Jahre alt. Es sind 48 Treppenstufen…und wieder

nur ein Viertelstündchen.

 

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