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Reisen damals und heute

Jetzt beginnt für viele wieder die beste Zeit des Jahres: Koffer packen und ab in die Berge oder ans Meer – Hauptsache Tapetenwechsel. Was heute selbstverständlich ist, war früher durch Krieg und Geldmangel meist nur ein Traum. Und als man endlich an Urlaub denken konnte, wurde Deutschland durch den Bau der Mauer im August 1961 gewaltsam geteilt. 50 Jahre danach erinnern sich AWO BewohnerInnen aus Ost und West an ihre Reisen.

Hannelore ist zwölf, als sie 1939 am Fuße der Zugspitze steht. Mit weit aufgerissenen Augen und offenem Mund blickt sie auf Deutschlands höchsten Berg und ist überwältigt vom gigantischen Gebirgspanorama. Zum Gipfel auf die Station »Schneefernerhaus« darf sie nicht – die Fahrt mit der erst wenige Jahre zuvor gebauten Bayerischen Zugspitzbahn ist zu teuer für die ganze Familie. »Ihr kommt bestimmt noch mal her«, sagen die Eltern und fahren ohne ihre Kinder hinauf. 48 Jahre wird es dauern, bis Hannelore nach Garmisch-Partenkirchen zurückkehrt und die Zugspitze – diesmal in 2.650 Meter Höhe – erlebt.

»Damals brach kurz nach unserem Urlaub der Zweite Weltkrieg aus«

sagt Hannelore Meinhold, die heute das AWO Seniorenzentrum »Clara Zetkin« in Leipzig bewohnt. »In der Nachkriegszeit war an solche Ausflüge nicht zu denken – und dann kam die Mauer. Meinen Bruder, der durch den Krieg nach Westdeutschland kam und später in Bayern lebte, durfte ich erst mit 60 besuchen.«

Die Sehnsucht nach den Bergen stillte sie fortan mit Aufenthalten in Vogtland-Aschberg, dem Wintersportgebiet der DDR. Organisiert wurde der Urlaub im sozialistischen Teil Deutschlands seinerzeit vom dortigen größten Reiseveranstalter, dem Feriendienst des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes. »Es war aber sehr schwierig, einen FDGB-Platz zu bekommen. Deshalb versuchten mein Mann und ich es manchmal im staatlichen Reisebüro«, erzählt die einstige Hort-Erzieherin. »Wenn der Freiverkauf von Reisen losging, brauchte man neben Glück auch viel Geduld, denn schon nachts um zwei bildeten sich riesige Warteschlangen.«

Urlaub im FDGB-Heim war beliebt, weil es kaum privat betriebene Hotels oder Pensionen gab und weil ihn sich jeder leisten konnte. Ein Sieben-Tage-Urlaub im Harz kostete 1960 beispielsweise 17,50 Mark. Die Ferienschecks wurden in den Betrieben nach vorgegebenen Kriterien verteilt, wozu »besondere Arbeitsleistungen« und »gesellschaftliche Aktivitäten« ebenso gehörten wie »gesundheitliche und soziale Belange«. Urlaubsgebiete waren vor allem Rügen, Usedom, der Thüringer Wald, der Harz und die Mecklenburgische Seenplatte. Wer keine FDGB-Unterbringung ergatterte, musste in einem der rund 72.500 betriebseigenen Heime gemeinsam mit den Kollegen den Urlaub verbringen. Ganz selten fand man über eine Anzeige in der »Wochenpost« ein Privatquartier, das man sich dann für viele Jahre warmhielt.

Auch in Westdeutschland verbrachte man die Ferien zunächst noch in heimischen Gefilden an der Nord- oder Ostseeküste, im Schwarzwald oder bayerischen Alpenvorland. Heimatfilme wie etwa »Das Schwarzwaldmädel« oder »Wenn die Heide blüht« lösten einen regelrechten Reiseboom in diese Regionen aus.

Gerd Heidrich aus dem AWO Seniorenzentrum »Baumheide« in Bielefeld ist derselbe Jahrgang wie Frau Meinhold. Aber anders als die Dresdnerin konnte er Anfang der 60er Jahre die Koffer packen und Ferien in Bella Italia machen. »Erst hatten wir einen Fiat 500, später einen VW, mit dem meine Frau und ich regelmäßig an den Gardasee gefahren sind – immer mit Stopp in Oberstdorf; und geschlafen haben wir unterwegs im Auto mit zurückgelegtem Sitz«, erinnert sich der 84-Jährige. »Eine wunderschöne Zeit verbrachten wir dort. Nur das Essen mochte ich nicht: Von Spaghetti wird man doch nicht satt!«

Garda- und Comersee, Venedig und Neapel, Jesolo und Rimini: Italien, »das Land, wo die Zitronen blühn«, war das Lieblingsreiseziel in der jungen Bundesrepublik. Den Traum von Arkadien, blauem Himmel, Meer und romantischem Hafen konnten sich immer mehr Menschen erfüllen – dank des Urlaubsgeldes, das die Betriebe zunehmend ihren Mitarbeitern zahlten. Die Mehrheit der Bundesbürger verreiste mit dem Zug, wohnte in Fremdenzimmern und Gasthöfen. Wer es sich schon leisten konnte, machte sich per PKW auf den Weg gen Süden – ein VW Käfer kostete 1955 rund 3.500 DM.

»Blick vom Glockenturm auf den Canale Grande«, »Auf dem Markusplatz«, »Am Badesteg« – llse Jentzsch blättert durch ihr Fotoalbum. »Ich habe keinen einzigen Urlaubstag je zu Hause verbracht«, sagt die 88-Jährige, die durch eine Hüftoperation 2003 ihr Hobby aufgeben musste.

Von der Kultur Venetiens bis zur Côte d’Azur, von der Ostsee-Schiffsreise bis zum Wintersport im Kleinwalsertal: Es gibt kaum eine Ecke in Europa, die Frau Jentzsch aus dem AWO Seniorenzentrum »Wilhelm-Augusta-Stift« in Bielefeld nicht gesehen hat. »Meine erste Reise ging nach Borkum. Das war zur Währungsreform im Sommer 1948. Ich war Mitte zwanzig und wollte endlich etwas vom Leben haben. Also ging es mit den eingetauschten 40 DM ab in die Ferien.« Im Gepäck: Bettbezug und Kartoffeln, denn mit den »all inclusive«-Angeboten von heute hatten diese Urlaubsreisen natürlich nichts zu tun.

Anfangs reiste die damalige Sachbearbeiterin im Jugendamt alleine und übernachtete meist in Zimmern ohne Klo und fließend Wasser.

Später schloss sie sich Gruppen an und lernte per Bahn, Bus und Schiff die Welt kennen – von Rhodos bis nach Russland.
Den sozialistischen Bruderstaat durften auch die DDR-Bürger bereisen – allerdings nur, wenn sie zuvor einen Antrag bei der Volkspolizei gestellt hatten. Unkomplizierter und ohne Visum ging es nach Polen, Rumänien oder in die CSSR, zum Beispiel mit den so genannten »Freundschaftszügen«. Wer einsteigen durfte, entschieden allerdings Betrieb, Jugendreisebüro oder die FDJ. Das »Italien von Ostdeutschland« war Ungarn. Voll gepackt zogen im Sommer Trabi-Karawanen an den Balaton, um Sonne und Westwaren zu genießen.

»Ich war als Kind in Polen und später mit meinem Sohn im FDGB-Ferienheim auf Usedom – das war es mit meiner Reiserei«, sagt Margarete Laube, Bewohnerin des Dresdner AWO Senioren-und Pflegeheims »Albert Schweitzer«. »Aber dafür bin ich ganz viel in meinem Kopf gereist.« Das Regal in ihrem Zimmer ist vollgepackt mit Bänden von Erwin Strittmatter und englischsprachiger Literatur. Gern hätte die 91-Jährige einmal in ihrem Leben London besucht – der gleichaltrige Prinz erinnere sie an ihren im Krieg gefallenen Verlobten: »Ich stelle mir immer vor, dass er heute so aussehen würde wie Philip.«

Sommer vorm Balkon oder im Garten, hieß es für Erika Beilich und ihre Familie. »Wir hatten nicht viel Geld, aber eine Datsche bei Potsdam, wo wir in den Ferien lebten«, erzählt die Leipzigerin beim Mittagessen im »Clara-Zetkin-Haus« der AWO. »Heute sind  meine Kinder in der ganzen Welt unterwegs. Zuletzt war mein Sohn in Kenia – die Postkarte kam sechs Wochen nach seiner Rückkehr!«

Die große Reisewelle setzte bei vielen DDR-Bürgern mit dem Eintritt ins Rentenalter ein.

Frauen mussten mindestens 60 Jahre alt sein, Männer durften ab 65 ins westliche Ausland bzw. in die Bundesrepublik fahren. Bei Ursula Bornmann aus Leipzig war es am 18. Juni 1984 soweit. Da fuhr sie nach Westberlin, wie ein Stempel in ihrem Reisepass aus DDR-Zeiten zeigt. Seitdem packt sie regelmäßig das Fernweh; sie macht sich in Begleitung ihrer Freundin Lilli (s. auch Artikel über Freundschaft im Alter,  Seite 11) auf den Weg, zuletzt nach Binz. Mitbewohnerin Gertrud Saage erfüllte sich ihren lang gehegten Traum und reiste gleich zweimal nach Paris, für sie die schönste Stadt der Welt. Und Hannelore Meinhold erinnert sich noch heute genau an ihren ersten Besuch in München: »Da sagte mein Bruder zu mir: ›Halte Deine Handtasche nach innen, sonst schnappt sich ein Radfahrer das Portemonnaie.‹ So was gab es in der DDR nicht. Das war auch eine neue Erfahrung.«

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