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Starke Frauen: Ein Jahrhundertleben *1919

»Ora et labora«: Der Glaube und die Arbeit sind das »Altersgeheimnis« von Lotte Schapals, die im Sommer ihren 100. Geburtstag feiert © Eric Langerbeins, COMMWORK Werbeagentur GmbH

Anlässlich des AWO-Jubiläums haben wir uns auf die Suche nach Bewohnerinnen gemacht, die 2019 ebenfalls ihren 100. Geburtstag feiern. Fündig wurden wir in zwei Seniorenzentren in Hessen. Anhand der Lebensgeschichten von Lotte Schapals und Emmi Geiß werfen wir einen Blick auf ein Jahrhundert AWO, in dem Frauen eine Hauptrolle spielen.

Hell und freundlich wie der Flur, der zu ihrem Zimmer führt, ist Frau Schapels gekleidet: von der Seidenbluse bis zu den Schuhen, alles cremefarben. Auch Emmi Geiß hat sich für den Besuch herausgeputzt und trägt zum schwarzen Blazer einen grau-weiß changierenden Schal. Beide Damen sind genauso alt wie die AWO, in deren Senioreneinrichtungen sie nun ihren Lebensabend verbringen.
Lotte Schapals kam am 2. August 1919 in Garz auf Rügen zur Welt. Schon kurz nach ihrer Taufe verließ die Familie die Insel und kehrte zurück in ihre Heimat nach Duisburg, wo der Vater als Bergmann Arbeit fand.
Emmi Geiß erblickte wenige Monate später, am 8. Dezember, im hessischen Rebgeshain das Licht der Welt. Bereits einen Tag später wurde das Mädchen zu einer Bekannten nach Paris gebracht, wo sie bis zur Einschulung blieb. Warum sie nicht bei ihrer Mutter sein durfte und wer ihr Vater war, weiß Frau Geiß nicht. Über »solche Sachen« wurde nicht geredet.

Eine, die schon damals sehr wohl die Dinge beim Namen nannte, war Marie Juchacz, die berühmte deutsche Sozialreformerin und Gründerin der AWO. Die zu diesem Zeitpunkt geschiedene, alleinerziehende Politikerin setzte sich unter anderem für einen besseren Mütter- und Wöchnerinnenschutz sowie für eine Änderung der Rechtsstellung nichtehelicher Kinder ein. Am 19. Februar 1919 betrat sie als erste Frau in einem deutschen Parlament die Rednerbühne.

»Meine Herren und Damen!«, begann Marie Juchacz. »Ich möchte hier feststellen, und glaube damit im Einverständnis vieler zu sprechen, dass wir deutschen Frauen dieser Regierung nicht etwa in dem althergebrachten Sinne Dank schuldig sind. Was diese Regierung getan hat, das war eine Selbstverständlichkeit: Sie hat den Frauen gegeben, was ihnen bis dahin zu Unrecht vorenthalten worden ist.« Gemeint war damit das Wahlrecht, das einen Monat zuvor in Kraft trat. Über 80 % der wahlberechtigten weiblichen Bevölkerung strömten enthusiastisch an die Urnen.

Lotte und Emmi wurden in einem Jahr geboren, in dem sich die Frauen auf den Weg machten

Lotte und Emmi wurden also in einem Jahr geboren, in dem sich die Frauen auf den Weg machten. Befreit vom Korsett der Monarchie, schien in der Weimarer Republik auf einmal alles möglich: Mit Käthe Kollwitz wird erstmals eine Frau in die Akademie der Künste berufen, Marie Curies Radiuminstitut öffnet seine Pforten – und Marie Juchacz gründet am 13. Dezember 1919 in Berlin die Arbeiterwohlfahrt. Eine Organisation, entstanden aus der Arbeiterbewegung, mit der Idee der Selbsthilfe, Solidarität und dem Streben nach mehr Gerechtigkeit, auch zwischen den Geschlechtern. Unter Juchacz’ Leitung und durch das enorme Engagement vor allem von Frauen auf sämtlichen Ebenen war die Organisation schnell überall in Deutschland erfolgreich: 1926 gab es fast 2.000 Ortsausschüsse.

Emmi Geiß, die nach dem Krieg sehr krank war, hätte nie gedacht, einmal so alt zu werden
© Eric Langerbeins, COMMWORK Werbeagentur GmbH

Ein Jahr zuvor wurde die kleine Emmi von Paris wieder in die hessische Heimat gebracht. Nicht zur Mutter, sondern zu einer Tante, bei der sie bis zu ihrer Volljährigkeit wohnte. »Sie war immer gut zu mir«, erzählt Frau Geiß bei einem Glas Wein in der Cafeteria des Horst-Schmidt-Hauses in Heusenstamm bei Frankfurt. »Sie hatte eine Tochter, die nur ein Jahr jünger war als ich, mit der wuchs ich auf wie mit einer Schwester.« Jeden Tag nach der Schule mussten die Mädchen auf den Acker, doch trotz der harten Arbeit in der Landwirtschaft erinnert sich Emmi Geiß mehr an die unbeschwerten Tage, an denen sie mit dem Rad durch die Felder fuhr.

Lottes Kindheit und Jugend wiederum war geprägt von der autoritären Erziehung durch den Vater, den der Krieg hart gemacht hatte. Ausgehen war ein Fremdwort. Sonntagsgottesdienste dagegen waren Gesetz. Die besuchte die vierköpfige Familie in der nur wenige Schritte von ihrer kleinen Zechenwohnung entfernten Neuapostolischen Kirche.

Vom weiblichen Aufbruch in die Moderne bekam man weder in der Duisburger Bergsiedlung noch auf dem Land im hessischen Rebgeshain allzu viel mit. Genauso wenig wie vom ausschweifenden Lebensstil der Hauptstadt, wo sich Frauen selbstbewusst mit Bubikopf und Zigarette auf den Straßen zeigten. Der Glanz der Goldenen Zwanziger, jüngst so anschaulich in der TV-Serie »Babylon Berlin« dargestellt, war für die Arbeiterkinder Emmi und Lotte wie aus einer anderen Welt.

Die 1929 einsetzende Weltwirtschaftskrise und der damit einhergehende Sozialabbau führten zu einer nie gekannten Arbeitslosigkeit und Massenverelendung. In diesen Jahren der unsagbaren Not bewies die Arbeiterwohlfahrt ihre große Bereitschaft, humanitäre Aufgaben wahrzunehmen. So beteiligte sich die Organisation früh an der allgemeinen Winterhilfe, in Werkstätten wurden arbeitslose Jugendliche zusammengefasst, durch Volksküchen Hungernde versorgt. Im April 1933 setzten allerdings die Nationalsozialisten diesem sozialen Engagement ein jähes Ende. Sie beschlagnahmten ihre Heime und Einrichtungen, bis die AWO unter dem Vorwand der Staatsfeindlichkeit im August 1933 verboten wurde. Um der Verhaftung zu entgehen, musste Marie Juchacz Deutschland verlassen. Bis 1936, als alle Reserven aufgebraucht waren, arbeitete die AWO in der Illegalität weiter.

Es ist das Kriegsjahr 1940, als Emmi ihre Krankenschwester-Ausbildung beim Diakonieverein in Darmstadt antritt. »Bevor man in den Dienst kam, musste man seine schönen Kleider abgeben, auch die Tasche und den Hut«, erinnert sich Frau Geiß, damals 21 Jahre alt. »Die Sachen wurden dann an die armen Leute verteilt und wir bekamen eine Schwesterntracht; bodenlang, grau gestreift, mit einer weißen Schürze und weißer Haube. Zu besonderen Anlässen trugen wir eine schwarze Tracht.«

Trotz Hunger und Not gab es auch unbeschwerte, schöne Momente

Ob das der Grund ist, warum Emmi Geiß beim Besuch des AWO-Journal-Teams Schwarz wählte? Irgendwie hat es ja etwas Feierliches, die letzten fast hundert Jahre Revue passieren zu lassen. Die Seniorin nimmt einen Schluck Wein und fährt dann mit dem Teil ihrer Erzählung fort, der auch Historiker interessiert: »Eines Tages mussten wir uns wie die Soldaten aufstellen. Dann kam eine Oberin und suchte mich aus, in ihr Schwesternhaus nach Nordhausen in den Harz zu kommen, wo ich dann während des Krieges im Einsatz war.« Dort pflegte sie keinen Geringeren als Wernher von Braun, den »Vater der Raumfahrt«, gesund. Sie war es, die vier Wochen lang als junge Diakonieschwester jeden Tag am Krankenbett des Raketenspezialisten alles tat, damit der an einer Lungenentzündung leidende Wissenschaftler wieder genesen konnte. Ja, wenn die Emmi nicht gewesen wäre, so sagte es mal ihr Tischnachbar im AWO-Seniorenzentrum Heusenstamm, dann wären die Amerikaner nicht als Erste auf dem Mond gelandet. Rund 76 Jahre liegt diese Begebenheit zurück, aber Frau Geiß erinnert sich, als sei es gestern gewesen. »Herr von Braun war ein gutaussehender, netter Mann«, erzählt sie. »Und er war wichtig, denn er bekam rund um die Uhr Polizeischutz. « Während der Krieg vor der Krankenhaustür tobte und das ohrenbetäubende Geräusch der Sirenen ertönte, las Emmi Geiß ihrem Patienten Romane vor, das war sein Wunsch. Als Dank wollte er der jungen Frau schreiben. Aber dazu kam es nie. 1945 lief der Physiker, der später wegen seiner Kooperation mit dem Nazi-Regime in die Kritik geriet, zu den Amerikanern über. Emmi Geiß erfuhr aus der Zeitung von seiner großen Karriere als Wegbereiter der US-Raumfahrt.

Und wie ging es nach 1945 mit der AWO weiter? Die Ortsvereine nahmen in den Westzonen wieder ihre Arbeit auf. Überall waren Helfer*innen aktiv, um die schlimmste Not vor Ort zu bekämpfen. Sie kümmerten sich um Evakuierte und Flüchtlinge, Heimkehrer*innen, Alte und Einsame, um junge Menschen, die Heimat und Eltern verloren hatten. Die Verpflichtung, den Schwächeren beizustehen, war so lebendig wie zur Gründungszeit der AWO. Und wieder war es eine starke Frau, die die Fäden in der Hand hielt: Lotte Lemke. In der Nachkriegszeit begann Marie Juchacz’ enge Vertraute die Organisation der Arbeiterwohlfahrt, deren Geschäftsführerin sie nun war, wieder aufzubauen.

»Ora et labora«: Der Glaube und die Arbeit sind das »Altersgeheimnis« von Lotte Schapals, die im Sommer ihren 100. Geburtstag feiert
© Eric Langerbeins, COMMWORK Werbeagentur GmbH

Doch zurück zu Lotte Schapals: Sie heiratete 1946 einen Mann, mit dem sie bei Jugendtreffen in der Kirchengemeinde poussiert hatte. Ernst, so sein Name, arbeitete wie Lottes Vater im Bergbau. »Aber es waren nie genug Moppen da«, sagt Frau Schapals beim Gespräch auf ihrem Zimmer im AWO-Seniorenzentrum in Fulda-Petersberg. Das ist Ruhrpott-Deutsch und heißt Geld. »Meine Mutter hat immer etwas dazuverdient, damit wir über die Runden kommen«, erinnert sich Sohn Günter und zeigt Fotos aus alten Tagen, als Lotte Schapals Seifenpulver verkaufte. Sie schleppte auch in der August-Thyssen-Hütte Steine und ging bis ins Rentenalter putzen. Aber die Spuren dieser körperlich harten Arbeit zeigen sich nicht in ihrem Gesicht, das auch nach fast hundert Jahren fast faltenfrei ist.

Während bei der AWO die 50er Jahre geprägt waren von großen Bauprogrammen und Neuerrichtung zahlreicher Heime, kam es im Leben von Lotte Schapals zu einem Zerwürfnis: Sie und ihr Mann nahmen Abschied von der Neuapostolischen Kirche und schlossen sich der apostolischen Gemeinschaft an. »Ab sofort galten wir als Abtrünnige«, erzählt Günter Schapals, der damals zehn Jahre alt war. »Dieser Riss spaltete ganze Familien, auch unsere.« Umso größer war der Zusammenhalt unter den Mitgliedern der Freien Kirche. Der gab Lotte Schapals besonders Kraft, als Ernst kurz vor seiner Pensionierung starb – inzwischen lebt sie schon 56 Jahre ohne ihn. Emmi Geiß hat nie geheiratet. Nachdem ihr Verlobter im Krieg gefallen war, gab es keinen Mann mehr, der für sie infrage kam. Sie fühlte sich wohl in der Schwesternschaft und arbeitete als Stationsschwester in Hanau.

Im Krieg wie auch danach standen die Frauen ihren Mann

Zehn Jahre, nachdem Frau Geiß in Rente gegangen war, fiel die Mauer in Berlin – und die AWO war bald auch in den fünf neuen Bundesländern vertreten. Heute ist sie ein anerkannter Spitzenverband der Freien Wohlfahrtspflege mit über 13.000 Einrichtungen und Diensten, in denen fast 212.000 hauptamtliche Mitarbeiter*innen und über 65.000 ehrenamtliche Helfer*innen tätig sind. Ein großes Standbein sind die Seniorenzentren, in denen nun auch Emmi Geiß und Lotte Schapals leben. Beide Frauen konnten noch bis vor wenigen Jahren allein zu Hause wohnen. »Meine Mutter ist jeden Tag 42 Stufen zu ihrer Mansardenwohnung hochund runter gelaufen – das hat sie lange fit gehalten«, erzählt Sohn Günter, der sie nach einem Oberschenkelhalsbruch zu sich nach Fulda nahm. Auch heute im Pflegeheim Petersberg macht Frau Schapals täglich Gymnastik und zeigt wie zum Beweis, wie beweglich sie noch ist. Dass sie den Ausklang ihres Lebens in einer Senioreneinrichtung der AWO verbringt, ist kein Zufall. »Wir sind eine Arbeiterfamilie«, so Günter Schapals. »Das, wofür die Arbeiterwohlfahrt steht, ist uns sympathisch.«

Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit, Solidarität und Toleranz – das ist das Wertebild der AWO, die auch nach hundert Jahren aufregender Geschichte für eine soziale Gesellschaft kämpft und politisch Einfluss nimmt. Bei Themen wie Renten, Mieten, Armut, Alter, Gesundheit genauso wie geschlechtliche Vielfalt, Klimaschutz und Frauenquote. Letztere wurde bei der AWO schon praktiziert, als es diesen Begriff noch gar nicht gab. Grund genug, das große Jubiläum des Spitzenverbands der Freien Wohlfahrtspflege gebührend zu feiern. Und nicht zu vergessen: den 100. Geburtstag von Emmi Geiß und Lotte Schapals, zwei starken Frauen, vor deren Lebensleistung wir den Hut ziehen!

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