in

»Queer im Alter« – Wie die Pflege diverser wird

@unsplash.com | johnell_pannell

Die AWO führt ein Modellprojekt durch, dass die Altenpflegeeinrichtungen für Lesben, Schwule, Bisexuelle, trans*- und intergeschlechtliche Menschen öffnen soll.

Laut Statistik gehören 5 bis 10 % der Gesamtbevölkerung zur LSBTI*-Community. Das heißt, auch in Altenpflegeeinrichtungen wohnen Menschen, die z. B. nicht heterosexuell sind oder sich so definieren. Dennoch leben wenige ihre sexuelle oder geschlechtliche Identität in Senioreneinrichtungen offen aus, da sie Angst vor erneuter Zurückweisung haben.

An sechs Standorten führt der AWO Bundesverband seit 2019 das Modellprojekt »Queer im Alter« durch, das mehr Sichtbarkeit, Sensibilität und Aufmerksamkeit für ältere LSBTI* fördern soll. Beteiligt sind vier Pflegeheime in Bernau (Brandenburg), Dortmund (NRW), Köln (NRW) und Neu-Ulm (Bayern) sowie zwei ambulante Pflegedienste in Mönchengladbach (NRW) und Neubrandenburg (Mecklenburg-Vorpommern).

»DIE QUEERE COMMUNITY IST WILLKOMMEN!« 

© AWO Bundesverband e.V.

Zu Beginn des Projekts wurde unter Beteiligung der Modellstandorte ein Konzept mit Maßnahmen zur allgemeinen Öffnung von Angeboten der Altenhilfe für LSBTI* entwickelt. Denn die queeren Bewohner*innen eines Sozialraums müssen erst mal davon erfahren, dass es in ihrer Nähe z. B. ein Pflegeheim gibt, in dem sie ausdrücklich willkommen sind. Dabei werden die Modellstandorte auch von Mitarbeitenden der Bundesinteressenvertretung schwuler Senioren e. V. begleitet, die u. a. Kontakte zwischen den regionalen Communitys und den Pflegeeinrichtungen vermitteln. Gleichzeitig sollen regelmäßige Veranstaltungen und queere Besuchsdienste ins Leben gerufen werden.

PFLEGEPERSONAL MUSS FÜR QUEERE BIOGRAFIEN SENSIBILISIERT WERDEN

Eine der zentralen Maßnahmen ist aber die Sensibilisierung der Mitarbeitenden für die Vielfalt sexueller und geschlechtlicher Lebensweisen und Identitäten. Das Institut für Gesundheits- und Pflegewissenschaft der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg hat hierfür ein modulares Fortbildungspaket erarbeitet.

Ein Schwerpunkt der ersten Fortbildung war die intensive Auseinandersetzung mit beispielhaften queeren Biografien. Um die besondere Situation und die Bedarfe älterer LSBTI* verstehen zu können, sollen Mitarbeitende ihre Geschichte kennen. Denn diese verbindet LSBTI* in Pflegeheimen miteinander. Sie wuchsen mit sozialer Ächtung und der Stigmatisierung, »krank« zu sein, auf. Die Erfahrung oder ständige Androhung von sozialer Ausgrenzung, Denunziation, körperlicher Gewalt sowie z.T. auch staatlicher Verfolgung und Bestrafung gehörten zu ihrem Alltag. Allein in der BRD wurden bis 1969 rund 50.000 Männer nach § 175 StGB, der gleichgeschlechtliche sexuelle Handlungen unter Strafe stellte, verurteilt.

SELBSTZWEIFEL BEGLEITEN LSBTI* BIS HEUTE

Nicht nur für schwule Männer, auch für Lesben, Bisexuelle, trans*- und intergeschlechtliche Menschen bedeutete das Öffentlichwerden ihrer Identitäten, das Coming-out, die Gefahr des Verlustes familiärer und sozialer Kontakte, des Ausbildungs- oder Arbeitsplatzes bis hin zur physischen sowie psychischen Gesundheit und der eigenen Existenz. Früh erworbene Selbstzweifel, auferlegte Schuldgefühle, Traumatisierungen und Angststörungen begleiten viele LSBTI* dieser Generation bis heute. 

NIE WIEDER VERSTECKEN!

Erst durch das Bewusstwerden und Reflektieren von Vorurteilen und Unsicherheiten entsteht Vertrauen zwischen Einrichtungspersonal und LSBTIBewohneri*nnen. Offenheit und gegenseitiger Respekt sind die Basis für ein dauerhaftes diskriminierungsarmes Umfeld. In diesem müssen LSBTI* sich nicht »outen« – können es aber. Sie müssen sich nicht am Lebensende erneut verstecken oder erklären und sie können queeren Besuch empfangen, ohne sich rechtfertigen zu müssen. Ältere LSBTI* möchten ihre teilweise mühsam erkämpften selbstbestimmten Lebensentwürfe in Pflegeeinrichtungen nicht aufgeben. Die Mitarbeitenden können sie hierbei unterstützen.

© AWO Bundesverband e.V.

»Wirklich hilfreich neben dem fachlichen Input ist die Vernetzung sowie der Austausch untereinander. Hier können wir von unterschiedlichen Erfahrungen profitieren und gute Praxisbeispiele einfach übertragen.« –Teilnehmer*in Bereichsleitung Senioren

Bei der zweiten Fortbildung ging es vorwiegend um die Relevanz für die Betreuung und Langzeitpflege sowie um körperliche und gesundheitliche Aspekte. So ergab eine aktuelle Befragung älterer trans*-Personen große Befürchtungen bezüglich der Offenheit des Pflegepersonals. Nicht nur gegenüber anderen Lebensweisen, sondern auch in Hinsicht auf nicht normative Körper.

Die Teilnehmer*innen der Fortbildungen sollen das Erlernte und Erfahrene zurück in die Einrichtungen tragen und mithilfe einer professionellen Prozessbegleitung in der Praxis umsetzen.

WIE WIRD DIE ZUKUNFT AUSSEHEN?

Nach zwei Jahren Projektlaufzeit werden die zentralen Projektergebnisse und Konzeptionen der Fachöffentlichkeit auf einer bundesweiten Tagung in Berlin vorgestellt und schließlich in Form eines Handbuches allen Wohlfahrtsverbänden zur Verfügung gestellt. Damit ein offenes Leben unterm Regenbogen in naher Zukunft in möglichst vielen der jeweils über 14.000 Pflegeheime und ambulanten Dienste in Deutschland selbstverständlich wird.

Das Modellprojekt wird gefördert vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend.


Termine und weitere Infos: 

Abschlusstagung des Modellprojekts am Donnerstag, den 28. Januar 2021 von12 bis 17 Uhr in Berlin.

Fragen, Ideen, Literaturhinweise sowie Anmeldung zur Abschlussveranstaltung beim Verfasser:

Lothar Andrée, Arbeiterwohlfahrt Bundesverband e.V., Projektleiter »Queer im Alter – Öffnung der Altenhilfeeinrichtungen der AWO für die Zielgruppe LSBTI*«

E-Mail: lothar.andree@awo.org

Kommentare

Schreibe einen Kommentar

Loading…

0

Von Herzklopfmomenten und lauter Klischees – Diese 5 LGBTIQ*-Podcasts solltet ihr hören!

Wie man alte Gewohnheiten erfolgreich ändert