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Corona im Pflegeheim – Ein Glas Sekt aufs Überleben

©iStockphoto.com/ DP3010

Als die Pflegeheime wegen Corona ihre Pforten für Besucher*Innen schließen mussten, haben wir zwei Bewohner*Innen von AWO-Einrichtungen durch diese kontaktarme Zeit telefonisch begleitet: Josef Kuck, 90, aus dem nordrhein-westfälischen Seniorenzentrum Huchem-Stammeln sowie Erika Tuchscherer, 88, aus dem Horst-Schmidt-Haus in Hessen. In den Gesprächen ging es immer wieder um die Pandemie – und damit um die großen Themen des Lebens

Endlichkeit

Herr Kuck

ES IST FREITAG, DER 13., als das AWO Seniorenzentrum im nordrhein-westfälischen Niederzier die Nachricht erhält, dass sich einer ihrer Bewohner mit dem Coronavirus infiziert hat: Josef Kuck, 90 Jahre und Dialyse-Patient – mehr Risikogruppe geht nicht. Doch schon wenige Tage nach der Diagnose, pünktlich zum Sankt Josefstag am 19. März, hat Herr Kuck Grund zur Freude: Er darf das Krankenhaus verlassen und wieder zurück ins Seniorenheim. Der Verlauf seiner Krankheit war leicht, außer Schluckbeschwerden und etwas Husten hatte er keine Symptome.
Während in den TV-Nachrichten dramatische Bilder aus Norditalien zu sehen sind, von bäuchlings im Bett liegenden Patienten an Beatmungsgeräten und von Militärkonvois, die Massen an Särgen wegbringen, titelt der Kölner Stadtanzeiger am 14. April: »Ein Glas Sekt aufs Überleben«.
Gemeint ist die wundersame Genesung von Josef Kuck. Der darf nach drei Wochen Quarantäne inzwischen wieder im Garten der Einrichtung spazieren gehen – als einziger Bewohner, er gilt als immun.
Ein Glückspilz? »Es sieht so aus, als ob das Leben es gut mit mir meint«, sagt Josef Kuck und erzählt, wie er als Vierjähriger in ein Wasserloch fiel und nur durch Zufall von einem vorbeiradelnden Mann entdeckt und herausgezogen wurde. Ein paar Jahre später verfehlte ein Granatsplitter im Zweiten Weltkrieg nur um Millimeter seine Wirbelsäule.
Weniger gut meinte es das Schicksal mit seinem Vater. Der starb 1944 in russischer Gefangenschaft. Zwei Jahre zuvor hatte ihn Josef Kuck das letzte Mal gesehen, da war er 13 Jahre alt.

Frau Tuchscherer

WIE ZERBRECHLICH DAS LEBEN IST, hat Erika Tuchscherer aus dem Horst-Schmidt-Haus im hessischen Heusenstamm schon mehrmals zu spüren bekommen. So wie im Juli 2018 beim Sturz in ihrer Küche.
»Damals war ich geschwächt, hatte mich mit allem übernommen«, sagt die 88-Jährige, die fünf Jahre lang ihren demenzkranken Mann bis zu dessen Tod zu Hause pflegte. Und nun das Virus. Angst habe sie keine, aber sie leide unter dem Besuchsverbot.
»Ich telefoniere zwar viel, sogar mit Video, doch nichts kann eine Umarmung ersetzen«, findet die Seniorin. Gerade, als Mitte Mai die Lockerungen losgingen und ihr Sohn aus Gießen endlich in die Einrichtung kommen durfte, wurde ein Bewohner positiv auf COVID-19 getestet und eine strenge Quarantäne verhängt.
»Das war ein großer Dämpfer«, sagt Frau Tuchscherer. Sie vermisst ihre Bekannte von der ersten Etage, ihre beiden Kinder, die vier Enkel und fünf Urenkel – die jüngsten sind gerade zwei Jahre alt geworden. Am zweiten Weihnachtsfeiertag, ihrem Geburtstag, fand das letzte Treffen mit der Großfamilie statt.
Wer weiß, ob und wann es wieder eines geben wird?

Liebe

63 JAHRE WAREN SIE VERHEIRATET. An den Tag, als Josef Kuck seine spätere Frau kennenlernte, erinnert er sich gerne: »Sie stand plötzlich am Rand des Fußballplatzes. Später erfuhr ich, dass sie die Schwägerin des Schiedsrichters war. Ich spielte Rechtsaußen und rannte die Linie rauf und runter, nur um in ihrer Nähe zu sein. Es war die berühmte Liebe auf den ersten Blick.«
Als einen seiner glücklichsten Tage nennt Herr Kuck die Hochzeit, die sie 1956 feierten – im Haus der Eltern seiner Frau, das vor Gästen aus allen Fugen platzte.
Übrigens nur wenige Kilometer vom Seniorenzentrum Niederzier entfernt, das heute sein Zuhause ist. In seinem Zimmer, so erzählt der seit 2019 Verwitwete am Telefon, hänge ein Foto der Frischvermählten. Kinder konnte das Paar nicht bekommen, doch es führte ein erfülltes, geselliges Leben.
»Natürlich war auch mal der Wurm drin«, gibt Josef Kuck zu. Sein Geheimnis einer langen Ehe: »Man muss mal auf den Tisch klopfen, aber genauso zurückstecken können.«
Jeden Tag brachte er seine Frau zur Arbeit und holte sie um 16 Uhr wieder ab. Dann fuhr Josef Kuck zurück zu seiner Arbeitsstelle, eine Buch- und Offsetdruckerei, und freute sich auf das gemeinsame Abendessen.
»Klara war eine sehr gute Hausfrau und Köchin. Sie konnte Reibekuchen backen – da wollte man nicht mehr vom Tisch aufstehen.«

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TANZEN WAR IHRE GROSSE LEIDENSCHAFT. 30 Jahre lang waren Erika und Theo Tuchscherer in einem Tanzclub in Heusenstamm aktiv. »Wenn wir das Parkett betraten, wurden wir oft bewundert «, erzählt die Bewohnerin, und man kann förmlich ihr Lächeln bei der Erinnerung an ihre gemeinsamen Auftritte durchs Telefon hören. In seinen Armen fühlte sie sich sicher und geborgen. Das spürte Erika Tuchscherer schon beim ersten Tanz.
Damals auf einem Maskenball, auf dem der junge Postbeamte das als Eisläuferin verkleidete Fräulein Wölfl zum Walzer aufforderte. Anderthalb Jahre später waren sie verheiratet.
Besonders in diesen Wochen, in denen Frau Tuchscherer die meiste Zeit alleine verbringt, schwelgt sie oft in alten Zeiten – und reist in Gedanken nach Südtirol, wo sie mit ihrem Mann wunderschöne Hütten-Touren unternahm.
»Abends haben dann alle Wanderer zusammengesessen, gesungen, und Theo spielte die Mundharmonika – herrlich.«

Das Glück der kleinen Dinge

ENDLICH WIEDER BUNDESLIGA! Nach 65 Tagen Corona-Pause rollt am 16. Mai wieder der Ball.
Herr Kuck freut sich wie Bolle auf die Sportschau, zu der es im Seniorenzentrum traditionell Schnittchen und Kölsch gibt. Durch die Abstandsregeln müssen allerdings die Bewohner*innen einer Etage unter sich bleiben, das heißt, ab sofort sitzt er nur mit seinem Wohnbereich vor dem Fernseher. »Corona hat auch gute Seiten«, sagt der Borussia-Mönchengladbach- Fan und lacht.
»Mich hat immer gestört, dass während des Spiels so eine Unruhe herrschte. Viele sind irgendwann aufgestanden und durchs Bild gelaufen – das wird jetzt weniger.«

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»Wenn Sie einen Wunsch frei hätten, was würden Sie spontan antworten?«

EINE TASSE FRISCHEN, HEISSEN KAFFEE – das gab Frau Tuchscherer bei einer von der AWO-Einrichtung durchgeführten Befragung an auf die Frage: »Wenn Sie einen Wunsch frei hätten, was würden Sie spontan antworten?« Wenig später kam ein Pfleger in ihr Zimmer und servierte genau das. »Ich fühlte mich wie im Wiener Kaffeehaus«, schwärmt die 88-Jährige. »Da stand plötzlich eine Tasse schäumender, noch mit einer kleinen, dampfenden Rauchfahne versehener Milchkaffee vor mir – was für eine schöne Geste!«

Natur

BEWEGUNG AN DER FRISCHEN LUFT ist für Josef Kuck, der noch in der Altherrenmannschaft von SV Merken kickte und mit seiner Frau viel wandern ging, Lebenselixier. Bis heute geht er täglich seine Runde spazieren. Als umso schlimmer empfand er die Quarantäne, die ihn an den Krieg erinnerte, »als wir mehr im Keller saßen als draußen«. Im Speisesaal hat er einen Tisch direkt am Fenster mit Blick auf den Park und erfreut sich an den drei Alpakas, die auf der großen Wiese hinter dem Seniorenheim grasen.

EIN ZIMMER MIT GARTENZUGANG – das war Frau Tuchscherer wichtig, als sie vor zwei Jahren ins Horst-Schmidt-Haus zog. Sie brauche die Natur wie die Luft zum Atmen. Dass sie auch Trost sein kann, spürt Frau Tuchscherer gerade jetzt, wo keiner ihrer Lieben sie besuchen kann. »An einem Ahornbaum vor meiner Tür ist ein Vogelkasten angebracht, und in den letzten Wochen habe ich zuschauen können, wie junge Weidenmeisen gefüttert wurden und schließlich ausgeflogen sind«, erzählt die ehemals passionierte Gärtnerin. »Ich kann alles gut übersehen und teilhaben an der Fröhlichkeit der Tiere.« Auch das Lesen über die Natur hilft ihr. Gerade verschlingt sie den Roman »Hinter den Bergen das Meer«. Es geht um die Besiedelung des wilden, noch unentdeckten Kanadas.

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Heimat

ER WAR IMMER UNTERWEGS UND BLIEB DOCH IM DORF. In Merken, einem Stadtteil von Düren in Nordrhein-Westfalen, rund drei Kilometer vom Seniorenzentrum Niederzier entfernt, ist Josef Kuck in der elterlichen Wohnung am 28. Juli 1929 zur Welt gekommen – und geblieben.
Nur während des Krieges mussten er, seine Schwester und Mutter fort, wurden erst nach Sachsen, später nach Niedersachsen evakuiert. »Früher kannte ich so ziemlich jeden in Merken«, sagt Herr Kuck und fängt an, Platt zu sprechen.
Kaum zu verstehen für norddeutsche Ohren. Also fährt er in abgemilderter Mundart fort, plaudert von den zahlreichen Dorffesten. Wie sie als Halbstarke durch die Straßen liefen und am 1. Mai symbolisch Mädchen ersteigerten.
Eine der vielen Traditionen in der Region. Maikönig sei er aber erst mit 90 geworden. »Da kamen neulich drei Frauen in mein Zimmer, setzten mir einen Zylinder auf und führten mich in den Festsaal«, erzählt der Bewohner, nicht ohne Stolz in der Stimme. »Dort saßen gleich zwei Maiköniginnen – die eine kenne ich von früher. Sie war unsere Nachbarin.« Heute verfolgt Josef Kuck das Dorfgeschehen in den »Dürener Nachrichten«, der Lokalteil kommt zuerst. Dort stand, der Karneval für nächstes Jahr sei wegen Corona gefährdet. Das findet der bekennende Jeck vorschnell. »Wer weiß schon, was bis dahin ist?!«

©unsplash.com | Kelly Sikkemaw

SIE WAR BEREITS 17, ALS SIE NACH HESSEN ZOG. Aufgewachsen ist Erika Tuchscherer in Edersgrün im Kreis Karlsbad, heute Tschechien. »Bis zu unserer Vertreibung hatte ich eine wunderschöne Kindheit.« Sie war zwar Einzelkind, hatte aber eine gleichaltrige Cousine, mit der sie alles gemeinsam unternahm. Wenn Erika nicht gerade mit Gerti durch die Wiesen und Wälder strich, nähte sie Kleider für ihre Puppen. »Meine Mutter war Schneiderin – von ihr lernte ich die Handarbeit«, sagt Frau Tuchscherer, die mit ihren selbstgenähten Teddybären noch immer Kinder glücklich macht. Spricht sie aber vom Verlust ihrer böhmischen Heimat, klingt ihre Stimme traurig. Die Vertriebenen wurden als »Kartoffelkäfer « beschimpft. Doch durch die Heirat mit einem Westerwälder fand die junge Frau ein neues Zuhause im hessischen Dietzenbach, seit über 60 Jahren ihre zweite Heimat.

Freundschaft

SEINE JÜNGSTE BEKANNTSCHAFT IST 96. Der Mann zog nach Josef Kuck ins Seniorenzentrum ein, aber »nach einer Viertelstunde Gespräch wusste ich, dass das was wird mit uns«.
Hin und wieder würde die Tochter des Mitbewohners einen feinen Tropfen mitbringen. Den genießen die zwei Senioren dann zusammen. Auf Menschen zugehen fällt dem Rheinländer von jeher leicht.
»Jöga«, so sein Spitzname, mischte überall mit: ob im Fußball oder Kegelverein, als Mitglied bei der AWO oder der SPD. Auch jetzt im Seniorenzentrum ist Josef Kuck allseits beliebt und sorgt mit seinem trockenen Humor für gute Laune. Bingo ohne ihn? Unmöglich!

GEMEINSAME ERINNERUNGEN TUN GUT. Vor sechs Wochen ist Frau Tuchscherers Freundin Martha ins Horst-Schmidt-Haus eingezogen – und damit ein Kapitel aus glücklichen Tagen.
»Wir haben zwanzig Jahre im gleichen Club getanzt«, erzählt die Bewohnerin.
»Richtig gefunden haben wir uns aber, als unser Trainer Paare suchte, die jenseits der Standardtänze etwas Neues ausprobieren wollten. Das war Square Dance – und wir haben zu viert wunderbar harmoniert: auf dem Parkett genauso wie außerhalb.« Neben ihrem Tanzhobby waren Erika und ihr Mann im Umweltschutz und in der Kirche aktiv. Noch immer pflegt sie Brieffreundschaften aus dieser Zeit. Aber sie genießt auch die Bekanntschaften im Seniorenzentrum Heusenstamm und kann es kaum erwarten, endlich wieder mit den anderen Stuhlgymnastik, Gehirnjogging und Yoga zu machen – und vor allem in den Speisesaal gehen zu können.
»Ich sitze an einem Vierertisch, wir haben nette Unterhaltungen beim Essen. Über Corona reden wir wenig.«

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