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Jung trifft alt

Michelle Mayer
©Eric Langerbeins, COMMWORK Werbeagentur

Solidarität unter den Generationen – das ist bei der AWO kein frommer Wunsch, sondern wird aktiv gelebt: mit Patenschaften und Projekten, mit Kita-Kindern, Schülern und Azubis. Die bringen nicht nur viel Freude in die Seniorenzentren, sondern lernen auch eine Menge bei der Begegnung mit den Bewohnern. Beispiele aus zwei Häusern in Hessen-Süd.

Die Farbe Rot gibt an diesem Nachmittag den Ton an: Es ist Erdbeerfest, und vom Kuchenbuffet über die Servietten bis hin zur Bowle geht es um die Lieblingsfrucht des Sommers; einige Besucher haben sich sogar rot gekleidet! »Diese Veranstaltung ist sehr beliebt«, sagt Carmen Bube und schaut sichtlich zufrieden in die bestens gelaunte Runde im Innenhof des AWO Sozialzentrums Bruchköbel – während die Gäste fröhlich beginnen, zu den Keyboard- und Quetschkommodenklängen von »Schmidtchen Schleicher« zu schwofen. »Die Leute kommen aus der ganzen Nachbarschaft, um mit uns die Erdbeer-Saison zu feiern.«

Als die Einrichtungsleiterin vor drei Jahren das Haus übernahm, lag ihr dessen Öffnung auch für jüngere Semester besonders am Herzen: dass sich hier jeder, und zwar vom Kindergartenkind bis zum Greis, willkommen und als Teil der Gemeinschaft fühlt. Keine leichte Aufgabe, denn viele haben Berührungsängste und scheuen die Begegnung mit pflegebedürftigen Menschen. Da sind Veranstaltungen wie die Erdbeer-Sause genau das Richtige, um auf locker-unverbindliche Art in Kontakt zu kommen. Nicht jeder hat schließlich das Glück einer Familie. Es gibt Bewohner, die haben niemanden, keine Kinder, keine Verwandten oder nur welche, die fern der Heimat wohnen. Die blühen regelrecht auf, wenn sie unter Leute kommen, besonders unter junge.QL9B6764_sw

So wie jetzt eine weißhaarige Frau im Rollstuhl: Sie wirkt am Tisch etwas verloren, bis sich Olga zu ihr gesellt und ihr fürsorglich eine wärmende Jacke um die Schulter legt. Sofort hellt sich das betagte Gesicht auf. Ihr Geburtsdatum weiß die Bewohnerin nicht mehr, aber mindestens 70 Jahre dürften zwischen ihr und der Schülerin liegen.

»Ich mag den offenen, ehrlichen Umgang und habe mich gleich wohlgefühlt«. Olga Kamaltdina

Olga sehr schüchtern, doch wenn sie sich den Bewohnern widmet, wird aus dem etwas unsicheren Mädchen plötzlich eine zugewandte, selbstbewusste junge Frau. »Olga strahlt eine unglaubliche Ruhe aus, die besonders dementiell Erkrankten sehr gut tut«, sagt Ramune Navickyte. Die Sozialdienstleiterin scheint ein Händchen für den Nachwuchs zu haben. Auch die Azubis Diane Augustin, Linda Klein und der 21-jährige Fabrice sind wie aus dem Bilderbuch für Altenpflegeberufe entsprungen. Alle kommunikativ, offen, reflektiert und mit einer großen Portion Herzenswärme ausgestattet. Die Unbefangenheit und Leichtigkeit der Jugend ist manchmal die beste Medizin.

QL9B6589_swDen Alltag pflegebedürftiger Menschen kennenzulernen, sich sozial zu engagieren und schon mal in den Job zu schnuppern – das ist auch das Ziel des Generationenprojekts »Jung trifft Alt«, bei dem Achtklässler der örtlichen Heinrich-Böll-Gesamtschule regelmäßig die AWO Einrichtung Bruchköbel besuchen. »Diesmal war das Thema, an mehreren Nachmittagen die Wohnbereiche mit Wandbildern zu verschönern«, erzählt Erika Hofmann-Lugbauer, die die Kooperation als Sozialpädagogin begleitet.

Neben der jeweiligen Aufgabe geht es vor allem um Persönlichkeitsentwicklung. Die jungen Leute sollen auch mal über den Tellerrand schauen.

Dass sich die Teenager-Welt nicht nur um Smartphone, Markenklamotten und Youtube-Filmchen dreht, beweisen die vielen Schüler, die im Seniorenheim immer wieder freiwillig ihre Nachmittage verbringen. Wie Maurice, Ahmad, Paula – und die 14-jährige Emily, die es »einfach schön findet, dass sich die alten Leute so über unseren Besuch freuen.«

Altersübergreifende Maßnahmen sind nicht neu. Gerade bei der AWO, zu deren Selbstverständnis die Solidarität der Generationen gehört, wird das Miteinander von Jung und Alt seit jeher gefördert: mit Aktionstagen, Projekten, Workshops und Kreativ- Wettbewerben wie »Funkensprüher«. Neben diesen organisierten Aktionen öffnen sich die Seniorenzentren aber zunehmend auch für Alltagsangebote, um junges Leben in die Räume zu bekommen. Zum Beispiel treffen sich dort Krabbelgruppen oder Ganztagsschulen verlegen ihre Tanz- und Theaterkurse in die Altenheime. Auf diese Weise wächst zusammen, was zusammengehört.

Ein Teil der Gemeinde sein, das wollte Ekkehard Steinfeld, als er 1993 die Seniorenwohnanlage im hessischen Roßdorf einweihte und gleich in die Offensive ging. »Mich hat damals Konrad Hummels Buch ›Öffnet die Altenheime‹ stark geprägt«, erzählt der Einrichtungsleiter.

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Starkes Team: Betriebsleiterin Carmen Bube mit ihrer Sozialdienstleiterin Ramune Navickyte

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Schöne Begegnung: »Bufdi« Philipp und Besucherin Maria Bödecker

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Praktikantin Michelle Mayer und die Schüler der Heinrich-Böll-Gesamtschule Bruchköbel haben einen Blick für die Bewohner

Das Plädoyer für mehr Teilhabe der Senioren an der Gesellschaft setzten er und sein Team in die Praxis um. Schnell wurde das Haus zur festen Instanz im Ort: Ob Ostermarkt oder St. Martinsumzug, ob Neujahrsempfang, Lesungen oder Weinfest – die AWO Anlage ist ein beliebter Treffpunkt der Roßdorfer. Außerdem benutzt der halbe Landkreis den hauseigenen Pool: Schwangere, Säuglinge und Seepferdchen-Anwärter gehen hier ins Wasser.

Das Schöne: Das Schwimmbad ist rundum verglast, sodass die Bewohner alleine beim Anblick der kleinen Planscher großen Spaß haben. Auch die örtliche Tai-Chi-Chuan-Schule praktiziert bis zu fünfmal in der Woche im Foyer. »Kann schon mal vorkommen, dass ein dementer Bewohner Dinge von oben runterwirft oder dazwischenruft«, sagt Ekkehard Steinfeld und fügt mit einem Schmunzeln hinzu: »Aber bei dem asiatischen Kampfkunst-Sport soll man ja lernen, sich nicht von äußeren Reizen ablenken zu lassen.«

Keine Frage: In der Seniorenwohnanlage Roßdorf ist nicht nur an Festen gehörig was los. Viele Bewohner können zwar nicht mehr hinausgehen, aber das Leben kommt zu ihnen! Und bringt Dinge mit, mit denen sie vielleicht sonst nie in Berührung gekommen wären. Zum Beispiel wissen die älteren Herrschaften jetzt, dass der »Hund« nicht nur ein Haustier ist, sondern eine Yogaübung, denn auch der Trend-Sport wird hier praktiziert. Weil einige Senioren durchs Zuschauen Interesse daran zeigten, gibt es inzwischen sogar eine Gruppe für pflegebedürftige Männer und Frauen. Nicht nur die lernen dabei etwas Neues, sondern auch Petra Schmetz, die Trainerin, profitiert von der Erfahrung mit Hochbetagten.

Überhaupt ist die Begegnung von Jung und Alt eine, wie es neudeutsch heißt, Win-win-Situation: die jungen Menschen zeigen Hilfsbereitschaft und lernen soziale Kompetenz, die älteren vermitteln Werte und Wissen. Alle können voneinander lernen, auch gegenseitige Rücksichtnahme und Verständnis für die jeweilige Lage. Statt die Generationen zu separieren und ihren eigenen Welten zu überlassen, gilt es mehr denn je, die Fäden zusammenzuhalten – damit eine bunte, lebendige Gesellschaft entstehen kann, in der jeder seinen Platz hat.

 

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